Die Mutigsten waren fast noch Kinder

Niko von Glasow-Brücher dreht einen Film über die »Edelweißpiraten«

  • Horst Knietzsch
  • Lesedauer: 5 Min.
Jugendliche aus Köln unternahmen am Ende des vergangenen Jahres im Keller der ehemaligen Militärakademie der russischen Raketenstreitkräfte in St. Petersburg Schießübungen auf Blechdosen. Zur gleichen Zeit wieselten Männer der Gestapo durch die Gänge. Die russischen Wachsoldaten vor dem leer stehenden Gebäude nahmen es gelassen. Einige Räume, in denen einmal die Elite der Raketentruppen ausgebildet wurde, hatte für sechs Wochen eine deutsche Filmproduktion als Kulissen gemietet. Regisseur Niko von Glasow-Brücher drehte dort seinen Film »Edelweißpiraten«. So nannte sich eine antifaschistische Widerstandsgruppe, der in Deutschland bis auf den heutigen Tag die offizielle Anerkennung versagt wird. Die Kölner Gymnasiasten Johannes Schaller, Dominik Bromma, Simon Taal und Florian Wilken sowie Anna Thalbach und Bela B. Felsenheimer gehören zu den Darstellern. Warum in St.Petersburg gedreht wurde? »Die Stadt hat große Ähnlichkeit mit dem alten Köln, wie man es von Fotos kennt, etwa die vielen Jugendstil- und Gründerzeithäuser. Und dann fand ich hier Schauspieler, die in ihren Gesichtern das Leid des Krieges reflektieren können, die selbst leiderfahren sind«, sagt der Regisseur. »Ich habe hier Mitarbeiter gesucht und ich bin auf ausgezeichnete Profis gestoßen. Schauspieler, Studiotechniker, Bühnenbildner, Maske, Kulissenbau: Die Qualität ihrer Arbeit ist vom Feinsten.«
An der Ecke Schönsteinstr./Bartholomäus-Schink-Strasse in Köln ist eine Gedenktafel angebracht. »Hier wurden am 25.10.1944 elf vom NS-Regime zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppte Bürger Polens und der UdSSR und am 10.11.1944 dreizehn Deutsche - unter ihnen jugendliche Edelweißpiraten aus Ehrenfeld sowie andere Kämpfer gegen Krieg und Terror - ohne Gerichtsurteil öffentlich durch Gestapo und SS gehenkt.« Die »Edelweißpiraten« waren zumeist junge Leute, die sich gegen die faschistische Diktatur auflehnten. Sie prügelten sich mit Hitlerjungen, verweigerten den Wehrdienst, sabotierten den Krieg, verbreiteten Flugblätter. Einige von ihnen aus dem Kölner Arbeiterstadtteil Ehrenfeld gingen 1943 in die Illegalität. Sie nahmen Kontakt zur politischen Opposition auf, der so genannten Ehrenfelder Gruppe. Die bestand aus geflohenen Häftlingen, Zwangsarbeitern, Russen, Juden, Deserteuren. Die »Edelweißpiraten« versteckten geflohene Juden, Zwangsarbeiter, Deserteure. Sie bewaffneten sich, wollten die Gestapo-Zentrale sprengen. Sie hausten in Bombenruinen, plünderten Versorgungszüge auf Güterbahnhöfen und stahlen Lebensmittelmarken aus Verteilungsstellen. Wurden sie von der Gestapo, der Hitlerjugend oder der Polizei angegriffen, wehrten sie sich. Zu den Partisanenaktionen gehörten Anschläge auf Gestapo-Mitarbeiter und NS-Funktionäre, von denen einige getötet wurden. Die »Ehrenfelder Gruppe« nahm Verbindung mit der größten Kölner Widerstandsorganisation, dem Nationalkomitee Freies Deutschland, auf. In Ehrenfeld selber existierte eine bewaffnete Widerstandsgruppe des Nationalkomitees um den geflohenen KZ-Häftling Hans Steinbrink.
Die Gestapo jagt und findet schließlich einige der Jugendlichen, foltert sie und ermordet sie. Mitten in Köln-Ehrenfeld werden am 10. November 1944 acht junge Deutsche zwischen 16 und 24 Jahren und fünf Erwachsene ohne Urteil erhängt. Hunderte von Menschen, darunter Freunde, Eltern und Geschwister werden gezwungen zuzusehen. Die Amerikaner stehen bei Aachen, nur noch 70 Kilometer vor Köln. Der Gestapo-Chef von Köln, Walter Helmut Schmitz, wurde nach den Krieg lediglich zu einem Jahr und sieben Monaten Gefängnis verurteilt, wovon er nur vierzehn Monate absaß.
Der Widerstand von Tausenden Jugendlichen gegen die faschistische Diktatur ist ein weithin verdrängtes Kapitel deutscher Geschichte. Klagen ihre Aktionen nicht auch die Erwachsenen an und belegen, dass Widerstand möglich war? Allein bei der Kölner Gestapo wurden Akten über rund 3000 jugendliche »Edelweißpiraten« geführt. Nach dem Krieg wurden sie als Kriminelle abgestempelt, weil sie, um im Untergrund überleben zu können, Diebstähle und Plünderungen begingen und im bewaffneten Kampf faschistische Funktionäre getötet hatten. Noch heute ringen ehemalige »Edelweißpiraten« in Deutschland um ihre Anerkennung als Widerstandskämpfer. Bartholomäus Schink wurde in Israel als »Gerechter unter den Völkern« geehrt.
Die Vorarbeiten zu dem Film waren aufwändig, zogen sich über Jahre hin. Mit Überlebenden und Angehörigen wurden Gespräche geführt, Gestapo-Verhöre ausgewertet. Kiki von Glasow, die Frau des Regisseurs, hat das Drehbuch geschrieben. Es dauerte wiederum Jahre, bis fünf Millionen Mark Produktionskosten aus Fördermitteln (Filmstiftung NRW, dem Bundesbeauftragten für Kunst und Medien, der Filmförderungsanstalt), vom holländischen Koproduzenten Laurens Geels und First Floor Feature sowie dem Westdeutschen Rundfunk (Redaktion: Helga Poche) beieinander waren. Niko von Glasow-Brücher hat sehr persönliche Motive, um vom antifaschistischen Widerstand zu erzählen. »Mein Vater ist jüdischer Abstammung und überlebte die Konzentrationslager. Ich gelte in den Augen der Nazis gleich zwei Mal als "lebensunwert": Wegen meiner jüdischen Herkunft und als Körperbehinderter.«
»Edelweißpiraten« soll ein wahrhaftiger Film werden. »Bei uns fällt die Kamera nicht auf die Nazi-Ästhetik herein«, meint der Regisseur, der als junger Mann mit Fassbinder zusammengearbeitet hat, »denn ehrlich gesagt, ich finde Leni Riefenstahl grauenvoll«. Gedreht wurde mit digitalen Handkameras, immer dicht im Geschehen, gnadenlos bis zum Schluss. Die kleinen Geräte sind bei der Flucht durch die Ruinen dabei, sie steigen hinab in den Folterkeller und hinauf aufs Schafott. »Wir ersparen dem Zuschauer nichts. Das Ausland wird den Film mögen, da bin ich sicher. Ich bin allerdings sehr gespannt auf die Reaktionen in Deutschland. Wir erzählen eine furchtbare Geschichte mit Leichtigkeit, nicht so bierernst wie man es gewohnt ist. Wir pendeln zwischen dieser Unbeschwertheit und großer Brutalität und das kann manchen irritieren. Meine Erwartungen an den Film sind sehr groß, aber er wird wohl kontrovers aufgenommen werden.«


Geplanter Kinostart: Sommer/Herbst 2003.

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