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Die Logik der Sbirren
Spitzelberichte über »gemeingefährliche Bestrebungen« der SPD
Die »Umwandlung der Wissenschaftslandschaft nach 1990«, wie die Zerstörung wissenschaftsorganisatorischer Strukturen der DDR gern euphemistisch benannt wird, haben einige Forschungsunternehmen glücklicherweise überlebt. Das bekannteste Beispiel ist die MEGA, die Marx-Engels-Gesamtausgabe, die dank internationaler Intervention aus mehreren Erdteilen weitergeführt wird.
Durch das Verständnis einfühlsamer Archivare aus westlichen Gefilden und den untadeligen Ruf wissenschaftlicher Akribie der DDR-Kollegen blieben immerhin auch zwei bedeutende Vorhaben zur Geschichte der Arbeiterbewegung auf dem Programm, die vor 1989 in Angriff genommen worden waren: zum Einen die Veröffentlichung der »Übersichten der Berliner politischen Polizei über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung« (1878-1913), in drei Bänden ediert von Dieter Fricke und Rudolf Knaack in den Jahren 1983 bis 2004. Zum Anderen die Edition der »Berichte über die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«, wie sie auf der Grundlage des »Sozialistengesetzes« von den Regierungspräsidenten in Potsdam und Frankfurt/Oder sowie vom Berliner Polizeipräsidenten in regelmäßigen (erst viertel-, dann halbjährlichen) Abständen an den preußischen Innenminister geliefert wurden.
Letzteres Unternehmen, dem sich im letzten Drittel der 1980er Jahre Ingo Materna und Beatrice Falk angenommen hatten, musste infolge der »Wende« eine erhebliche Durststrecke durchstehen, konnte aber mit Unterstützung durch das Brandenburgische Landeshauptarchiv in Potsdam und das Landesarchiv Berlin 2005 den ersten Teil (die Regierungsbezirke Potsdam und Frankfurt/Oder) vorlegen. Mit dem nun erschienenen, verständlicherweise umfangreicheren zweiten Teil (die Berichte des Berliner Polizeipräsidenten), ist jetzt auch dieses Dokumentation erfolgreich abgeschlossen.
Die Quellenedition gibt in einmaliger Weise Einblick in den alltäglichen Kleinkrieg zwischen den Organen der Staatsmacht und der auf dem Boden der Industrialisierung entstandenen und sich mit deren Fortschreiten weiter entwickelnden Arbeiterbewegung. Dabei fällt selbst schon bei oberflächlicher Lektüre auf, dass den behördlichen Sbirren (alt: Geheimagenten, Polizeidiener) des Establishments jede Vorstellung von sozial bedingten Ursachen für das Entstehen und die Existenz einer politischen Kraft fehlte, die sich mit den »nun einmal gegebenen« gesellschaftlichen Verhältnissen nicht abzufinden und sie zu bewegen gedachte. Sie erklärten sich die Genesis einer neuen linken Kraft jenseits der zähneknirschend akzeptierten bürgerlichen Linken mit unzeitgemäßer Nostalgie und persönlichem Ehrgeiz unruhiger und profilneurotischer Geister, die im Netzwerk des Establishments zu kurz gekommen seien und nun nach Aufmerksamkeit streben würden – eine durch ideologische Verblendung geprägte Verteufelungsmasche, die sich bis in die Gegenwart zieht.
Beide Bände liefern über den Zuwachs an wissenschaftlicher Erkenntnis über den amtlichen Umgang mit neuen gesellschaftlichen Phänomenen hinaus eine wertvolle Fundgrube bisher kaum oder nur unzureichend bekannter Fakten zur Heimatgeschichte Berlin-Brandenburgs. Der aus umfangreichen Aktenfundus und intimer Vertrautheit mit dem historischen regionalen politischen und sozialen Milieu schöpfende Sachverstand der Herausgeber erhebt die Edition zu einer Schatzkammer besonderer Art. Dass bei dieser unermesslichen Faktenfülle gelegentlich ein kleiner Fehler unterlaufen kann, ist verzeihlich: Beim Stein'schen Gartenlokal, das am Himmelfahrtstag 1886 Ziel eines Ausflugs Berliner Maurer war, handelte es sich nicht um das »Lokal Stein« in der Rosenthaler Str. 36 in Berlin, sondern um das Ausflugsrestaurant »Stein's Casino am Langen See« in Grünau.
Beatrice Falk/Ingo Materna (Hg.): »Die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«. Die Berichte des Berliner Polizeipräsidenten über die sozialdemokratischen Bestrebungen in Berlin während des Sozialistengesetzes 1878-1890. Teil II. Berliner Wissenschafts-Verlag, 2009. 721 S., geb., 89 €.
Teil I: Die Berichte der Regierungspräsidenten über die sozialdemokratische Bewegung in den Regierungsbezirken Frankfurt/ Oder und Potsdam während des Sozialistengesetztes 1878-1890. BWV, 2005. 325 S., geb., 49 €.
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