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Eine Insel in Thüringen

In Schmölln ist das Neue Forum 20 Jahre nach seiner Gründung noch da – und stärker denn je

Im Herbst 1989 schossen Oppositionsgruppen wie Pilze aus dem Boden. Die wichtigste: das Neue Forum. Sein Einfluss war erheblich, aber von kurzer Dauer. Teil 38 unserer Serie erzählt, wie sich das Neue Forum im thüringischen Schmölln bis heute etabliert hat. Eine Insel in Thüringen, in der das Neue Forum 20 Jahre nach seiner Gründung stärker denn je ist.
Wahlkampf 1994 – links Christoph Schmidt, rechts Jens Göbel
Wahlkampf 1994 – links Christoph Schmidt, rechts Jens Göbel

Wenn Christoph Schmidt ins Rathaus geht, die Vortreppe hinauf zu der schweren Tür, vielleicht drei Meter über dem Markt, dann denkt er nicht jedes Mal an 1989. Der 49-Jährige hat dann meistens andere Dinge im Kopf, Fraktionsangelegenheiten, Vorlagen für Abstimmungen, Finanz- oder Bebauungspläne. Oder die Sache mit dem Ökostrom. Schmidt kann sich nicht einmal genau erinnern, wie er damals von hier oben zu den Leuten gesprochen hat, die sich zu Tausenden auf dem Markt drängten. Hatten sie ein Megafon dabei? Ach, das Gedächtnis. »Wahrscheinlich haben wir einfach gebrüllt.«

Damit nicht noch mehr in Vergessenheit gerät und manches wieder ins Bewusstsein zurückgeholt wird, bereiten sie derzeit eine Ausstellung über die Wendezeit vor. Denn in Schmölln, im äußersten Osten Thüringens, kann man ein bisschen verkehrte Welt erleben: Was das Neue Forum ist, wissen viele – eine Fraktion im Stadtrat, die gerade erst bei der Kommunalwahl 12,9 Prozent geholt hat. Was das Neue Forum einmal war – da muss so mancher passen. »In der Öffentlichkeit sind unsere Wurzeln aus der Wendezeit kaum noch präsent«, sagt Uwe Krause, ein 45 Jahre alter Ingenieur.

Partei kam nie in Frage

Deshalb sammeln sie Dokumente, Artikel, Unterschriftenlisten. Und Fotos. An die Bürger erging ein Aufruf, Fotografien von damals zur Verfügung zu stellen. Die Wendeaktivisten hatten im Herbst 1989 anderes zu tun, als sich selbst zu knipsen. »Die Stasi«, sagt Schmidt, »wird wohl fotografiert haben. Ihre Leute standen ja bei den ersten Demos noch an den Ecken.« Aber wenn es solche Bilder gibt, dann sind sie weit weg, in Leipzig, im Archiv der Bürgerrechtler. Schmidt hat den Unterlagentransport von Schmölln nach Leipzig selbst begleitet. Und nun fehlt die Zeit, dort in Ruhe zu suchen.

Denn Schmidt hat allerhand um die Ohren. Erstens in seinem Beruf als Sozialarbeiter und zweitens als Abgeordneter. Das Neue Forum ist viertstärkste Kraft in der 13 000- Einwohner-Stadt; drei Sitze haben sie im Stadtrat, nur einen weniger als die SPD. Tendenz steigend. In den 90er Jahren hatten sie ein Mandat, 2004 kam ein zweites dazu, nun also ein drittes. Sogar die Vorsitzende des Stadtrats stellen sie.

Am Anfang jedoch war Christoph Schmidt. Freilich nicht alleine, aber er war dabei, als sich 1989 Unzufriedene zusammenfanden; anfangs noch konspirativ. Als die Demonstrationen im Herbst begannen, fuhren sie erst einmal nach Leipzig. Uwe Krause wird das auf dem Zeitstrahl dokumentieren, den er leider vergessen hat; der Strahl steckt noch als Datei in seinem Computer. Darauf will er parallel die Ereignisse während des Wendeherbstes in der DDR und in Schmölln bis zur deutschen Einheit ein Jahr später festhalten. Als man die erste Demo in der kleinen Stadt im Bezirk Leipzig vorbereitete, erschien Ende September im »Neuen Deutschland« eine kurze ADN-Nachricht, wonach der Innenminister die Anmeldung einer Vereinigung Neues Forum abgelehnt habe, weil es sich um eine staatsfeindliche Plattform handele. Das ND brachte damals auch eine verständnislose Abhandlung über den Begriff Pluralismus, in der erklärt wurde, es gebe doch ein breites Spektrum an Organisationen, das jedem etwas biete – vom Naturschützer über den Briefmarkensammler bis zum Kirchgänger. Erst Anfang November wurde das Neue Forum zugelassen.

Beim ersten eigenen öffentlichen Protest am 31. Oktober auf dem Schmöllner Markt, zu dem über 3000 Menschen kamen, sprach unter anderem Christoph Schmidt. »Das war euphorisierend, aber ich hatte auch Schiss«, sagt er. »Es wusste ja niemand, wie es weitergeht.« Sie redeten über Zensur und Pressefreiheit, Stasi und alteingesessene Parteien, Probleme im Gesundheitswesen und bei der Altenbetreuung. Und den Gründungsaufruf des Neuen Forum aus Berlin haben sie verlesen. Was da alles drinstand – Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden, Schutz der Natur. Wenn Schmidt darüber nachdenkt, dann muss er sagen, »dass vieles immer noch aktuell ist«. Damals war es eine Provokation der Staatsmacht; Schmidt konnte sich weiter aus dem Fenster lehnen als andere, »weil ich bei der Diakonie beschäftigt war und keine arbeitsrechtlichen Folgen fürchten musste«. Die »Leipziger Volkszeitung« schrieb danach in einem Verriss über eine Ansammlung von Minderheiten-Krakeelern und nicht regelmäßig arbeitenden Bürgern.

Eigentlich müsste der Zeitstrahl, würde Uwe Krause ihn weiterziehen, irgendwann Anfang der 90er Jahre enden. Das Bündnis 90, der Zusammenschluss ostdeutscher Oppositionsgruppen, vereinigte sich mit den Grünen aus dem Westen. Ein kleiner Teil des Neuen Forums in verschiedenen Städten allerdings nicht. »Wir wollten in keine Partei, wir wollten auch keine Hierarchie«, sagt Schmidt, »diese Frage stand für uns nie.«

Sie kümmern sich nicht um die große Politik, sondern um die kleinen Dinge. Oder, wie es Jens Göbel

formuliert: »Wir suchen uns Themen, bei denen man was erreichen kann.« Es geht um Radwege, einen Skater-Park für Kinder und Jugendliche, die Musikschule, mehr Offenheit in Rathaus-Angelegenheiten. Und siehe da, das Neue Forum Schmölln ist zwar alles andere als eine Massenorganisation, registriert aber Zuspruch. Nur drei der zwölf Kandidaten bei der letzten Kommunalwahl sind schon seit der Wende dabei. Überhaupt, sagt Schmidt, hätten bei der Kommunalwahl bemerkenswert viele junge Leute für verschiedene Parteien kandidiert. Obwohl er, wendet Uwe Krause ein, auch spürbares Desinteresse an Politik erlebe: In der DDR wollten viele Menschen mehr tun, aber sie durften nicht. »Heute«, fügt er hinzu, »dürfen sie, aber sie wollen nicht mehr.«

Jens Göbel indessen ist der lebende Beweis dafür, dass in Schmölln die Geschichte des Neuen Forum erst so richtig anfing, als sie woanders beendet war. Der 45-jährige Lehrer wurde 1994 von Freunden gefragt, ob er mitmachen wolle. In eine Partei wäre er nicht gegangen, »aber beim Neuen Forum, das hat gepasst«. Heute ist er Fraktionschef im Stadtrat. Der Chef der einzigen Fraktion des Neuen Forum in ganz Thüringen; Schmölln ist eine Insel, weshalb sie beim sächsischen Landesverband um Asyl nachgesucht haben.

Ratssitzung am Abend im Rathaus am Markt. Die neue Bürgermeisterin von der CDU wird vereidigt, die hauchdünn vor dem Kandidaten der Linkspartei gewonnen hat – und auch das nur, weil kurz vor der Wahl ein Linksabgeordneter im Streit seine Fraktion verlassen und eine eigene Kandidatur durchgezogen hatte. Während die Gratulanten bei der neuen Rathaus-Chefin Schlange stehen, beugt sich ein gesetzter Herr in der ersten Abgeordnetenreihe nach hinten flüstert einem jungen Mann in der zweiten Reihe zu: »Komm, wir gratulieren auch, das macht sonst keinen guten Eindruck.« Es sind die unterlegenen Kandidaten von Linkspartei und SPD.

Eine kleine Revolution

Es geht familiär zu. Im Rat werde vieles einstimmig beschlossen, erzählt Christoph Schmidt, CDU und LINKE bilden eine Art Koalition und stellen die beiden Beigeordneten. Schmidt, der seit 1990 – erst im Kreistag, dann im Stadtrat – lange Einzelkämpfer war, findet, dass es viel zu wenig kritische Diskussion und Begleitung in der Stadtpolitik gibt. Wenn er allein gegen einen Antrag gestimmt habe, sei das oft mit Befremden registriert worden. Für ihn steht fest: Wer in Schmölln alternativ wählt, wählt Neues Forum.

Nach der Amtseinführung der Bürgermeisterin folgt Routine. Die Planungen für eine neue Straßenkreuzung liegen vor, ein Baugebiet für Wohnhäuser soll erschlossen werden. Fragen? Drei. Zwei davon stellt Jens Göbel. Der Rest der Versammlung hört und stimmt zu. Wahrscheinlich ist es das, was die Wähler honorieren, vermutet Christoph Schmidt – dass da eine Fraktion nicht nur auf Vorlagen aus der Verwaltung reagiert, sondern einen eigenen Kopf hat.

Spätabends dann eine kleine Revolution. Seit zwei Jahren versucht das Neue Forum, die städtischen Einrichtungen und die Straßenbeleuchtung auf Ökostrom umzustellen. Bisher vergeblich. Doch bei der jüngsten Wahl verlor die CDU ihre absolute Mehrheit. Mit zwölf gegen elf Stimmen beschließen Abgeordnete von Linkspartei, SPD, Neuem Forum und FDP den Anbieterwechsel, für den Schmidt schon mal das große Wort »ökologische Wende« findet. Das erste Mal seit 20 Jahren sei es gelungen, etwas gegen die CDU durchzusetzen, frohlockt er und verspricht sich davon eine gewisse Beispielwirkung. Es klingt, als erlebe er wieder einmal einen Aufbruch. Keinen ganz großen, aber doch einen, auf den er lange gewartet hat.

Am nächsten Montag in der ND-Serie »20 Jahre nach '89«:
Die Prager Botschaftsbesetzer

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