Über die Mauer – in den Osten
»Dann geh doch rüber« – ein Buch porträtiert Menschen, die »verkehrt« flüchteten
ND: Herr Schaad, »Über die Mauer in den Osten« heißt der Untertitel ihres Buches. Wer waren die Mauerspringer, die in den Osten wollten?
Schaad: 410 Menschen habe ich insgesamt gefunden. Jeder Fall steht beispielhaft für mehrere Fälle, also es ist nicht nur einer aus Liebe gesprungen, sondern fünf; es ist nicht einer aus Heimweh gesprungen, sondern dreißig. Statistisch könnte man sagen: Es war eine männliche Aktivität, ich habe nur 37 Frauen gefunden; es war eine Jugend-Aktivität, die Alterskohorte der 19- bis 26-Jährigen ist die Größte; es war eine nächtliche Aktivität, und es war kurioserweise eine internationale Aktivität. Die Motivlage ist sehr unterschiedlich, das konnte sein: alkoholisierter Übermut oder Wetten. Es gab auch rationale Gründe: Auf der Flucht vor der Polizei, sich der Strafverfolgung entziehen wollen, Schulden, übersiedeln wollen, psychische Krankheiten, aber es gab auch Ex-DDR-Bürger, die Einreisesperren hatten und aus Sehnsucht und Verzweiflung über die Mauer geklettert sind.
Warum diese Thematik?
Es begann mit einem Zufallsfund im Militärarchiv in Freiburg. Da lagern die Unterlagen der Grenztruppen der DDR, und da habe ich Tausende Karteikarten untersucht, gescheiterte Fluchtversuche von DDR-Bürgern. Und dann stieß ich auf eine Karte, auf der die Fluchtrichtung umgekehrt war. Das war der Fall eines 15jährigen Schülers der Rütli-Oberschule, der nach gehörigem Weinkonsum über die Mauer geklettert war und dort ohne Fremdeinwirkung zusammengebrochen ist. Das hat mein Interesse geweckt, gerade wegen der Frage: Wie reagierte die Staatsicherheit, wie die Behörde? Permanent wurde wiederholt, die Mauer sei der antifaschistische Schutzwall gegen eine äußere Bedrohung. Eine glatte Propaganda-Lüge. Aber was, wenn die von drüben tatsächlich kommen? Viele der Geschichten sind kurios, andere sind traurig, aber es ist kein frivoles Thema, denn es sind sieben Leute dabei erschossen worden, als sie versuchten, in den Osten zu klettern.
Sie gehen sehr sensibel mit Ihrer Sprache um, versuchen, jedes pauschale Urteil über West und Ost zu vermeiden.
Zunächst interessierte ich mich wirklich für die individuellen Geschichten. Natürlich wollte ich auch die Reaktionen der Staatssicherheit erfassen – die brutale Härte, mit der sie teilweise vorgegangen sind, gerade gegenüber ehemaligen Bürgern der DDR, dann aber auch große Hilflosigkeit. Aus Menschenfreundlichkeit haben die nie jemanden wieder zurückgeschickt, es waren immer strategische Überlegungen.
Eine berührende Geschichte ist »Heimweh« über den 17-jährigen Berthold Brandt. Dieser schafft unbemerkt der Grenzübertritt in den Westen, dann bekommt er Heimweh und versucht wieder unbemerkt in die DDR zu gelangen, nur wird er aufgegriffen. Er muss zwei Jahre strengen Vollzug verbüßen. War das angemessen?
Nein. Denn der junge Mann hatte kein großes Problem mit der DDR. Er hatte Ärger mit seiner Freundin, mit seinen Eltern und in der Lehre. Er ist ganz spontan gesprungen, ebenso schnell kam das Heimweh, und er wollte auf dem gleichen Weg wieder zurück. Die folgenden Spionagevorwürfe waren höchst konstruiert, das ist aus der Aktenlage eindeutig zu sehen. Der junge Mann wusste nichts über militärische Anlagen. Die Stasi verhielt sich geradezu rachsüchtig – hier hatte man endlich einen erwischt, der erfolgreich Republikflucht begangen hatte. Er wurde gleich zweimal verurteilt, einmal für die Flucht und einmal für die Grenzprovokation.
Sollte das Urteil auch zur Abschreckung dienen?
Kurioserweise wurde der Fall nicht zu Propagandazwecken benutzt. Die Öffentlichkeit wurde von diesem Prozess ausgeschlossen, es gab keine Pressemeldungen darüber, nichts. Der junge Mann wurde nach Verbüßung der zwei Jahre in den Westen abgeschoben und ihm die Staatsbürgerschaft aberkannt.
In anderen Fällen wurde anders verfahren?
Es gab eigentlich nur einen großen Fall, der propagandistisch genutzt wurde. Und das war bei Eckhard Berger, 1973, aus dem die Hauptabteilung IX, die Untersuchungsabteilung der Staatsicherheit, einen Spion des Springer-Verlages gemacht hatte – in einem Schauprozess, der teilweise im Fernsehen übertragen wurde. Ich denke, dass es den DDR-Behörden schon klar war, dass man mit den Leuten, die dort rüber geklettert kamen, nicht unbedingt Propaganda für die Notwendigkeit der Mauer treiben konnte. Dazu waren das viel zu tragische Geschichten, sie hätten eher Sympathie hervorgerufen.
Welches Material bzw. welche Akten haben Sie gesichtet?
Die Akten der Staatsicherheit, der Grenztruppen der DDR und der Generalstaatsanwaltschaft der DDR, wobei die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit die ergiebigsten waren. Es war das zuständige Untersuchungsorgan.
War für die meisten Menschen im Westen nicht schon in den achtziger Jahren die Mauer eine Normalität, die sie nicht mehr groß interessierte?
Für die Mauerspringer gab es im Westen kaum Interesse. Wenn Schüsse gefallen waren, kam es in der Springerpresse, und dann gab es noch die Erzählung des Schriftstellers Peter Schneider von 1982, der einen Fall besonders hervorhob. Ich finde das Zitat von Schneider so schön: Die Mauer und das, was dahinter vor sich ging, das war wie ein Spiegel, der den Westdeutschen zeigte, wer der Schönere im Land sei. Die Vorstellung, dass da jemand rüberspringt in den Osten, war abwegig.
Der Straftatbestand lautete: Ungesetzlicher Grenzübertritt.
Die Leute wurden verurteilt nach Paragraph 213 des Strafgesetzbuches der DDR. Und das ist just der Republikflucht-Paragraph. Da steht nur nicht Republikflucht drin, da steht: Missachtung der Grenze, ungesetzliches Überwinden der Grenze – die Richtung der Flucht ist da nicht angegeben. Über die Mauer zu klettern, war ein sehr ungünstiger Weg, weil die Mauer in den Augen der Staatsicherheit, der Staats- und Parteiführung eine Obsession war, das war für die DDR das Sinnbild der Souveränität. Das musste geschützt werden.
Wie gesagt: Die Gefühlslage der Mauerspringer war sehr ambivalent.
Es gibt Menschen, die die DDR hassten. Bei anderen war da eine verzweifelte Traurigkeit, dass sie tatsächlich nicht mehr in ihre alte Welt konnten – ich war sehr überrascht, wie viele Menschen Einreise- und Transitsperren hatten. Die durften nicht in die DDR.
Das Ende der DDR - Samstag, 20.15 Uhr bis 0.15 Uhr, Vox:
Für diese vierstündige Dokumentation von Spiegel-TV haben die Autoren Kathrin Sänger und Thomas Schafer aus hunderten Kassetten eine beeindruckende Chronologie erstellt, mit zum Teil unveröffentlichtem Bildmaterial – »vom Mauerfall bis zur Wiedervereinigung«. Die Schriftstellerin Monika Maron (»von da an glaubte ich wieder an Wunder«) und viele weitere Zeitzeugen (Birgit Fischer, Thomas Brussig, Bärbel Bohley, Petra Pau, Matthias Platzeck) erzählen über jenen Herbst der unerwarteten Freiheit ...
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