Kabul-Kriegsrat im Weißen Haus
Der Streit in Washington um eine neue Afghanistan-Strategie wird schärfer
Das waren schon ungewöhnliche Töne, die da Verteidigungsminister Robert Gates in Sachen Afghanistan anschlug. Auf einer Heereskonferenz empfahl der Pentagon-Chef seinen Generälen, ihrem Obersten Befehlshaber, und das ist Präsident Obama, Ratschläge »offen, aber privat« zu geben. Diskretion sei bei militärischen Vorschlägen das erste Gebot. Und in einem CNN-Interview forderte er dann, Obama in Ruhe über den weiteren Einsatz am Hindukusch entscheiden zu lassen. Gemeint war wohl vor allem der Oberbefehlshaber der USA- und NATO-Truppen in Afghanistan, Stanley McChrystal.
Der ließ über Bob Woodward in der »Washington Post« auch die Öffentlichkeit an seiner vertraulichen Lageeinschätzung teilhaben: Der Aufstand weite sich immer mehr aus – seit Jahresbeginn sind rund 400 ausländische Soldaten ums Leben gekommen, die meisten US-Amerikaner; bereits jetzt ist 2009 für sie das verlustreichste Jahr seit Kriegsbeginn. Ohne zusätzliche Soldaten könnte der Krieg gegen die Taliban verloren gehen, schlussfolgert McChrystal. Einer seiner Berater, der konservative Militärhistoriker Fred Kagan, kalkulierte ihre Zahl auf 40 000 bis 45 000. Der General kritisiert zugleich das von Vizepräsident Joe Biden beim »Kriegsrat« vor einer Woche im Weißen Haus präsentierte Konzept, mit weniger Bodentruppen und dem intensiven Einsatz unbemannter Drohnen vorrangig das Terrornetzwerk Al Qaida zu bekämpfen. Auch der Chef des für den Nahen Osten zuständigen Zentralkommandos der Streitkräfte, Heeresgeneral David Petraeus, und der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, Admiral Michael Mullen, fordern eine deutliche Truppenverstärkung.
Das Weiße Haus bemüht sich schon seit Tagen gegenzusteuern, wird Obama doch praktisch von den Generälen desavouiert. Der Präsident prüfe derzeit eine Gesamtstrategie für die Region. Dazu sollten Optionen präsentiert werden und nicht vollendete Tatsachen, erklärte etwa sein Sicherheitsberater James Jones. McChrystal habe lediglich seine persönliche Einschätzung vertreten. Jones verwies auf »erhebliche Fortschritte«, die man beim Kampf gegen die Taliban angeblich gemacht habe. Es gebe keine unmittelbare Gefahr einer Rückkehr der Islamisten an die Macht. Auch Al Qaida sei stark zurückgedrängt worden und habe derzeit kaum 100 Mitglieder und keine Stützpunkte mehr in Afghanistan. Nun gelte es, gegen ihre Rückzugsgebiete jenseits der Grenze etwa in Waziristan vorzugehen, umriss Jones einen Pfeiler der künftigen Strategie. Gates nannte die Grenzregion zwischen Afghanistan und Pakistan das »heutige Epizentrum des Dschihad«.
Amerika sei pleite und kriegsmüde, schrieb jüngst die »New York Times«. Doch so sehr in den Umfragen auch die Zahl jener wachsen mag, die einen Rückzug der Truppen fordern, der gehöre nicht zu den Optionen, die Obama zurzeit abwägt, betonte sein Sprecher Robert Gibbs. Einer repräsentativen Umfrage zufolge zweifeln inzwischen 59 Prozent der US-Amerikaner an einem erfolgreichen Ausgang des Afghanistan-Kriegs. 51 Prozent wandten sich gegen die von McChrystal geforderte Truppenverstärkung. Derzeit sind am Hindukusch gut 100 000 ausländische Soldaten im Einsatz. Präsident Obama hat angeordnet, das USA-Kontingent um 21 000 auf etwa 68 000 Mann aufzustocken. Bis Ende November sollen weitere 4000 entsandt werden, vor allem Ausbilder für Afghanistans Armee.
Schon damit findet er zunehmend Kritik in den eigenen Reihen. Eine Gruppe von etwa 20 Abgeordneten vom linken Flügel der Demokraten präsentierte jetzt im Repräsentantenhaus sogar einen Gesetzentwurf, der »jegliche Verstärkung der amerikanischen Truppen in Afghanistan« verbieten will. Zudem soll festgeschrieben werden, dass der Kongress keine zusätzlichen Haushaltsmittel für mehr Soldaten freigibt. Dafür hat man in Washington wieder stärker die Verbündeten im Visier. Für die Lage in Afghanistan sei auch das »zögerliche Verhalten« der NATO-Partner verantwortlich, so Verteidigungsminister Gates. Doch schätzt man im Pentagon, dass Europa höchstens über 5000 bis 7000 einsatzfähige Soldaten verfüge. »Wir können froh sein, wenn sie ihre bisherigen Truppenstärken halten«, meint Kurt Volker, einst NATO-Botschafter und heute Direktor des Transatlantic Center an der Johns-Hopkins-University.
Der demokratische Senator Carl Levin, Vorsitzender des Streitkräfteausschusses, will die Afghanen stärker in die Pflicht nehmen. Bis 2012 soll Kabuls Armee danach 250 000 Soldaten zählen, fast eine Verdoppelung des ursprünglichen Ziels. Hinzu kämen 160 000 statt 96 000 Polizisten. Bisher fließen für diesen Bereich zwei Milliarden Dollar nach Kabul. Diese Summe wird sich schon bald verfünffachen. Auch hier will die USA-Regierung Berlin in die Pflicht nehmen. Über nichtmilitärische Aspekte einer neuen Afghanistan-Strategie der Obama-Regierung hörte man ansonsten nichts aus Washington.
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