In der Bach-Stadt jazzt es

Das Internationale Jazz-Archiv in Eisenach

  • Antje Lauschner, dpa
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit Raritäten des europäischen und US-amerikanischen Jazz und Blues bildet das Eisenacher Archiv einen Gegenpol zur alten Bach-Musik.

Allein der Blick durch die Glastüren des Internationalen Jazz-Archivs in Eisenach ist atemberaubend. Hohe Regalwände voller Bücher, Schallplatten, CDs und Filme, eine Musikbox in Rot und Chrom aus den 1960er Jahren, Porträts von weltbekannten Musikern und Sängern. Nahezu unbemerkt ist in der Bach-Geburtsstadt in den vergangenen zehn Jahren eine einzigartige Sammlung zum frühen Jazz und Blues in Europa und den USA entstanden. 1999 gegründet, umfasst sie heute mehr als 80 000 Schellack- und Schallplatten, CDs, Tonbänder, Filme und Videos. Etwa 60 000 Fotografien, Programmhefte, Konzertplakate, Briefe und Musikinstrumente vervollständigen den Fundus.

Zudem kann in Eisenach der älteste Jazzclub Ostdeutschlands auf ein halbes Jahrhundert zurückblicken. »Wim Wenders hat hier 2002 für seinen Film ›The Soul of a Man‹ recherchiert und war verblüfft. Er stieß auf Material, das es selbst in den USA nicht gab«, erzählt Reinhard Lorenz, Jazz-Fan von früher Jugend an und Vorsitzender des Stiftungsbeirates der Lippmann+Rau-Stiftung Eisenach. Der 57-Jährige war vor 50 Jahren dabei, als Jazz-begeisterte Eisenacher einen Club gründeten, der Restriktionen und Jazz-Wellen in der DDR, Wende-Wirren und 20 Jahre Marktwirtschaft meisterte und heute mit 200 Mitgliedern erfolgreicher denn je ist. »In der Stadt Johann Sebastian Bachs, des ersten Jazzers überhaupt, macht das Sinn«, meint Lorenz. »Wir haben den Club immer als Gegenpol zur alten Musik und dem Bachhaus verstanden.«

Den Grundstein des Archivs bildete die Sammlung des Pianisten Günter Boas (1920-1993). 1943 von den Nationalsozialisten wegen des Hörens von Jazz im Konzentrationslager Buchenwald interniert, brachte er von 1949 an im Rundfunk mit »Blues for Monday« deutschen Hörern amerikanischen Blues und Jazz nahe. Mit dem Konzertmanager und gebürtigen Eisenacher Horst Lippmann (1927-1997) reaktivierte er den Frankfurter Jazzclub. 2006 hatten Clubarbeit, Archiv und Sanierung des denkmalgeschützten Domizils solche Ausmaße angenommen, dass dies nicht mehr ehrenamtlich zu leisten war, erzählt Lorenz.

Die Lippmann+Rau-Stiftung für Musikforschung und Kunst wurde mit einem Stiftungskapital von 20 000 Euro gegründet. 2009 übertrug die Stadt Eisenach die einstige Malzkaffeefabrik der Stiftung. Sie plant bis 2017 zwei Neubauten: das Lippmann+Rau-Haus zur Geschichte der populären Musik sowie ein Haus für Seminare, Übernachtung und Café. Forscher aus aller Welt sollen hierher kommen.

Zu den Stiftungsgründern gehört Fritz Rau, der mit seinem Freund Lippmann in den 1960er Jahren Blues-Legenden wie Muddy Waters und John Lee Hoker nach Europa brachte. Sie managten Rock-, Pop- und Jazz-Musiker wie Eric Clapton, Bob Dylan, The Rolling Stones, Ella Fitzgerald, Joan Baez, Frank Zappa, Queen, Marlene Dietrich, Harry Belafonte und Michael Jackson, aber auch Emil und Albert Mangelsdorff, ABBA, Udo Jürgens, Udo Lindenberg und Peter Maffay. Auf der Musikbox von Rau künden Namen wie Gianna Nannini, Bee Gees und Tina Turner von dem Musikverständnis der Musikmanager. »Musik war für sie Unterhaltung und Entspannung, sollte aber auch ›geistige Nahrung‹ sein«, erklärt Musikwissenschaftler Martin Pfleiderer. Seit Juni ist er Stiftungsprofessor für Geschichte des Jazz und der populären Musik an der Musikhochschule »Franz Liszt« in Weimar. Bis 2011 wird die Professur aus dem Exzellenzprogramm des Bundes mit 500 000 Euro gefördert.

»Unglaublich, was hier alles liegt«, schwärmt der 42-Jährige. In Deutschland gebe es Vergleichbares nur im Klaus-Kuhnke-Archiv Bremen und im Jazzinstitut in Darmstadt. »Aber hier liegen die Bestände aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts«, betont Pfleiderer und umreißt die Bedeutung von Jazz und Blues: »Jazz ist Lebensstil. Amerikanische Musik stand vor allem nach 1945 für Kulturwandel.« Sein Assistent Nico Thom sichtet und archiviert die Bestände. »Wir wollen auch die Geschichte der Musiker und Sammler erzählen«, erklärt er. Fritz Marschall beispielsweise habe 25 000 Platten und CDs bis zu den 1960er Jahren in seiner Wohnung gesammelt. »Raritäten über Raritäten: Acht Tonnen wog der Transport nach Eisenach.« Oder Schlagzeuger Trevor Richards, der in New Orleans lebt und seine Sammlung nach dem Hurrikan »Katrina« der Stiftung schenkte. Seine Schlagzeuge aus der Frühzeit des Jazz und Schallplatten tragen noch die Zeichen der verheerenden Überschwemmung.

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