Marias Visionen

Gina Mayer in der Berliner Bohème

  • Friedemann Kluge
  • Lesedauer: 2 Min.

Ein Schicksalsroman im besten Sinne, eine Fabel von höchst unterschiedlichen Menschen und ihren offenen, mehr aber ihren »unterirdischen« Beziehungen. Dabei erweist sich die Autorin als versierte Regisseurin von nahezu enzyklopädischem Wissen! An diesem Epos, das im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts spielt, stimmt einfach alles, bis in den Sprachgebrauch, bis in die Wortwahl: vom »Trottoir« ist da die Rede, von der »Elektrischen«. Ein wenig fühlt man sich bisweilen an Irmgard Keun erinnert, an Vicky Baum, an Leo Perutz, an Erich Kästner gar – gleichwohl: Es ist alles Gina Mayer, pur, sozusagen.

Marienerscheinungen und okkulter Hokuspokus mögen nicht jedermanns Sache sein. Wenn sie aber mit solcher Fabulierlust und -kunst und obendrein so lebensprall präsentiert werden, kann man sich ihnen kaum entziehen. Der Roman spielt – stets vor dem genau beobachteten politisch-kulturellen Hintergrund der Zeit – sowohl im Zirkusmilieu als auch im Umfeld der Berliner Bohème. Und es gelingt der Autorin, die Eigenheiten der Künstler so detailliert und wirklichkeitsnah auszumalen, dass man sie vor sich zu sehen meint.

Ja, so war die Dichterin Else Lasker-Schüler. Ja, so war der Maler Max Pechstein. Lediglich die Figur des Künstlers Ludwig Wunder ist in diese Umgebung hinein frei erfunden worden. Wunder, der die Wahrsagerin Maria liebt, von ihr aber letztlich abgewiesen wird, weil sie die Vision hat, ihm den Tod zu bringen. »Zitronen im Mondschein« – das ist ein Rezept, das Ludwig Wunder der auf geheimnisvolle Weise mit ihm in Verbindung stehenden Kellnerin Mira präsentiert: Man solle eine gut ausgereifte Zitrone in sprudelndem Weißwein kochen und sie sodann im Mondschein servieren.

Trotz aller Historisierungen scheinen in dem Buch höchst aktuelle Bezüge auf, dergestalt, dass sich Geschichte eben doch bisweilen wiederholt. Denn das ist gewiss als Parabel zu verstehen: »Noch gab es Reiche, Menschen, die so viel Geld hatten, dass sie es in ihrem ganzen Leben nicht hätten ausgeben können ... Man nahm Hypotheken auf Häuser, die noch gar nicht gebaut waren und belieh Grundstücke, die nicht existier- ten ... Man tanzte auf dem Vulkan, und dann brach er aus.«

Obwohl der Leser ab etwa der Buchmitte eine Ahnung davon bekommt, wie die einzelnen Erzählstränge letztlich aufeinander zu streben und miteinander verwoben werden könnten, lässt die Spannung nicht einen Augenblick lang nach. – Mit ihrem dritten Roman befindet sich Gina Meyer auf schnurgeradem Weg zu einer großen deutschen Erzählerin!

Gina Mayer: Zitronen im Mondschein. Roman. Gustav Kiepenheuer Verlag. 522 S., geb., 19,95 €.

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