Aussichtsreicher Versuch, SICH zu begreifen?

Theater II: Michael Thalheimer seziert am Schauspiel Frankfurt ein Gewissen – »Ödipus« von Sophokles

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.
Marc Oliver Schulze als Ödipus: die Tragödie des erwachenden Gewissens
Marc Oliver Schulze als Ödipus: die Tragödie des erwachenden Gewissens

Das Ich tritt aus der führenden Masse, sehr lange bevor die Masse führende Klasse sein wird. Wir sind noch in der Zeit des Götterglaubens, die Avantgarde sitzt im Himmel. Aber führend ist sie schon, diese Masse, führend in Meinung und Urteil. Der Glaube dirigiert den Chor in die alle Maße setzende Kraft hinein, Kollektivismus ist eine traditionsreiche Diktatur. Und deshalb tritt das sehr einzelne Ich aus dieser Masse heraus, wie man meist aus der Masse tritt: als übertrete es ein Gesetz. Kothurnen an den Füßen. Holzklötze. Als hätte die Masse dem Ich Bremsklötze unterlegt, auf dessen Weg ins Freie. Es geht schwer, schwerfällig, aber der Weg ist fällig.

Dieser Weg führt zur Mitte der Bühne – die keine Bühne ist, sondern nur ein schmaler hellhölzerner Rundumsteg vorm eisernen Vorhang. Rechts, links steht die Masse, der Chor, Papiermasken auf dem Kopf, wie das Ich auch. Das Ich heißt Ödipus und reißt sich ab und zu die Maske vom Kopf. Das Gesicht ist ein Spiegel der Seele, die Seele stirbt auf dieser Vor-Bühne den Tod – der in der Wahrheit auf seine Stunde lauert.

Michael Thalheimer hat am Schauspiel Frankfurt am Main den »Ödipus« des Sophokles inszeniert, an manchem Abend ist dies Stück gekoppelt mit der »Antigone«. Gleich vorweg: Oliver Reese, dem neuen Intendanten, zuvor Chefdramaturg und Interims-Chef am Deutschen Theater, gelang ein glanzvoller Auftakt.

Ödipus, ausgesetzter Königssohn, Retter Thebens, der durchs Orakel zum Mörder seines Vaters, zum Blutschänder seiner Mutter wurde – Marc Oliver Schulze spielt ihn als selbstgewissen Königskraftkerl, der besagten Mörder sucht und auf sich selber stoßen wird. Da will einer die Stadt retten und vernichtet fast den Staat. Wende-Erfahrung: Man steigt nicht erneuert aus der selbst verschuldeten Schande. Nichtwissen schützt nicht, Verweis auf Weltlagen ist kein moralischer Ausweis.

Thalheimer erhebt diesen Vorgang zur wuchtigen Tragödie. Zum traumatischen Erlebnis des Gewissens. Zur Folter des Gedankenstrichs zwischen allen Worten, die sich zur Wahrheit durchringen, und jeder Gedankenstrich senkt sich dem Ödipus wie Blei ins Blut. Das Fleisch wölbt sich zum Schrei. Noch ein Schrei. Und noch einer. Und noch einer. Man sieht, wie es die Muskeln des nackten Oberkörpers schier schaudert, sich anzuspannen – zum nächsten Schrei.

Ein Mensch in der Schuld. Das ist das Gewöhnliche. Ein Mensch im Bekenntnis zur Schuld. Das ist das Ungewöhnliche. Ein Mensch in der Wollust auf Schuld. Das ist das Unerträgliche. Aber es ist das einzig Erzählenswerte, und diese Inszenierung in ihrer statuarischen, bildhauerischen Kantensetzung erschüttert zutiefst. Indem die Zweiteilung eines Ichs porträtiert wird: erst die Hybris der Unanfechtbarkeit, Schulze wie ein zombiehaft zäher Vorfahr des Dorfrichters Adam, der die Vorsehung verspottet – dann aber ein unbändiger, blutiger Leidens- und Begreifensmasochist. Ödipus, zwischen die Reden des Chores links und rechts gespannt wie in eine Zwingschraube: Er krümmt sich ins letzte Aufrechtsein, die Selbstblendung, der König als verstoßener Bettler. Kein Götterrest mehr im Hirn. Ganz Mensch.

Der eiserne Vorhang hob sich. Luft? Schwarzes Nichts mit Treppe! Ankunft des Ichs im Alltag der Geschichte: dem Abgang. Ganz Mensch, das ist ganz unten.

Nächste Vorstellung: »Ödipus/Antigone« am 24. November

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