Besenstillstand vorm Morgengrauen
In Berlin bestreikten die Reinigungskräfte gestern unter anderem die Technische Universität
Der erste Streiktag. Für die meisten Berliner ist es noch mitten in der Nacht. Doch die Kollegen, die jetzt hier in Streikwesten aus weißem Plastik vorm TU-Eingang stehen, sind es gewöhnt, um diese Uhrzeit wach zu sein. Normalerweise beginnt in diesen Stunden ihre Schicht.
Heute jedoch stehen die Besen hier still. Die Gewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), zu der die Gebäudereinigerbranche gehört, hat das Unigebäude als Auftaktort für den bundesweiten Streik gewählt, der an diesem Dienstagmorgen beginnt.
Weiße Masken werden verteilt. Vorm Eingang halten ein paar Maskierte schon ein Transparent hoch: »Aufstand der Unsichtbaren« steht darauf. Dietmar Schäfers läuft an ihnen vorbei.
Trotz langen Mantels und Schals ist die Nase des IG-BAU-Vizechefs und Bundesstreikleiters der Branche gerötet, die Augen tränen noch ein wenig von der Müdigkeit. »Die Masse der Bevölkerung sieht diese Menschen ja gar nicht«, sagt er und weist mit dem Kopf in Richtung Transparent.
Lieber mit 500 Leuten 100 Wochen streiken
In rund 135 Gebäuden bundesweit werde im Laufe des Tages die Arbeit niedergelegt, erklärt Schäfers, bis zum Abend sollen rund 2200 Kollegen in den Ausstand treten. »Wir haben eine sehr kontrollierte und flexible Streiktaktik.« Ziel ist es, die Arbeitgeber durch kurzfristige Arbeitsniederlegungen immer wieder zu überraschen und ihnen dadurch auch den Einsatz von Streikbrechern zu erschweren.
Der IG-BAU-Regionalbeauftragte Rainer Knerler bringt das später in seiner Rede vor dem Menschenpulk, über dem Schwaden von Atem, Zigarettenrauch und Kaffeedampf in der Luft hängen, noch deutlicher auf den Punkt. »Es gibt in Berlin rund 50 000 Gebäudereiniger«, ruft er ins Megafon. »Die Arbeitgeber wollen, dass wir mit 50 000 Leuten eine Woche lang streiken. Aber das werden wir nicht tun. Wir streiken lieber mit 500 Leuten 100 Wochen, wenn es sein muss.«
Die Anwesenden klatschen und tröten. Unter ihnen ist auch Sabine Thiel. Die Frau mit den kurzen blonden Haaren ist seit einem Jahr Mitglied der IG BAU. Zweimal am Tag, jeweils vier Stunden, putzt sie in einem Jobcenter. Doch trotz Vollzeitjob reicht ihr der Lohn, den sie dabei raus hat, gerade so zum Leben. »Man hält sich so über Wasser«, meint sie. »Große Sprünge kann man eben nicht machen. Und die Preise steigen ja auch ständig«, klagt sie. »Ich bin Single. Wenn man eine Familie hat, ist das natürlich alles noch viel schwieriger.«
Nicht nur den Lohn meint Thiel damit, sondern auch die Arbeitszeiten. Ihre erste Schicht morgens tritt sie um 5.30 Uhr an. Um halb zehn ist sie fertig. »Und nachmittags um drei muss ich noch mal ran.«
Studenten unterstützen den Arbeitskampf
Hatice, die ihren Nachnamen nicht verrät, hat drei Kinder. Ihr Mann arbeitet auf dem Bau. »Meine Kinder gehen immer allein zur Schule oder in den Kindergarten«, sagt sie. Sie würde sie gern hinbringen, »aber ich muss arbeiten«. Seit 18 Jahren arbeitet Hatice in der Branche, seit kurzem putzt sie die TU. Die 20-Stunden-Woche bringt der Familie nur wenig Zugewinn.
Die Arbeitgeber lässt das kalt. Dabei machen sie nach Angaben der Gewerkschaft trotz Krise gutes Geld. Im letzten Jahr lag der Gewinn laut Berechnungen der IG BAU nach Steuern bei 1,2 Milliarden Euro. Käme die 8,7-Prozent-Lohn-Forderung durch, schlüge das mit insgesamt 280 Millionen Euro jährlich – derzeit also rund ein Viertel des Gewinns – zu Buche. Unterdessen haben die Arbeitgeber für den 28. Oktober ein Spitzengespräch angeboten. Die Gewerkschaft will der Einladung folgen. Vorerst aber wird weitergestreikt.
Es ist der erste Arbeitskampf in der Branche überhaupt. In Berlin wurde gestern gestern unter anderem auch im Paul-Löbe-Haus des Bundestages, im Abgeordnetenhaus und bei der Verwaltung der Stadtreinigung gestreikt. In München wurde in den Universitätskliniken nicht geputzt, im Norden etwa in der Hamburger Universität und in einer Klinik in Flensburg.
Zur TU Berlin kamen auch Studenten und linke Aktivisten, um die Reinigungskräfte in ihren Forderungen zu unterstützen. »Wir sind solidarisch mit den Streikenden, weil wir es völlig inakzeptabel finden, dass an unserer Hochschule miese Beschäftigungsverhältnisse herrschen«, erklärt Jan Latza. »Der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und die Auseinandersetzung um bessere Bildung gehören zusammen.«
Solidarität ist ohnehin das Motto dieses Morgens, an dem es langsam zu dämmern beginnt. »Hier stehen türkische, griechische, russische Kollegen und Kolleginnen neben deutschen«, tönt es aus dem Megafon, in das Knerler noch spricht. Später nimmt es Dietmar Schäfers in die Hand. »Wenn wir solidarisch nebeneinander stehen, wenn wir uns nicht auseinanderdividieren lassen, dann werden wir diesen Streik auch gewinnen«, ruft er. Lautes Jubeln. Schäfers' Nase ist immer noch rot.
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