Auf der Fußnoten-Spielwiese
»Die Karte meiner Träume«: Reif Larsens Romandebüt gehört ins Kuriositätenkabinett
Dieses Buch ist originell und unvergleichlich. Aber kein guter Roman. Daran ändert auch die für den 29-jährigen sympathischen, aus Cambridge (Massachusetts) stammenden Autor erfreuliche Tatsache nichts, dass zehn Verlage für seinen Debütroman Schlange standen und der erfolgreiche Penguin-Verlag ein Voraus-Honorar von fast einer Million Dollar zahlte. Das widerfährt Novizen wirklich nur selten. Heute, da viele Buchverlage in schwerem Wasser sind, muss es geradezu eine Sensation genannt werden.
Dieses schöne Buch erinnert an eine Einrichtung aus DDR-Zeit, als in Leipzig regelmäßig seit 1963 die schönsten Bücher gesucht und geehrt wurden. Dieser internationale Wettbewerb mit einer gut besetzten internationalen Jury war kein literarischer, sondern ein Gestaltungswettbewerb, ein Buchgestaltungswettbewerb. Das ist ein ehrenwertes und vergnügliches Anliegen. Denn wenn Leser von manchen Büchern als ihren besten Freunden sprechen, liegt das auch daran, wie ein Buch aufgemacht, gestaltet, in welches Gewand es gekleidet, wie es anzufassen ist. Vom heutigen Feuilleton-Chef des ND weiß ich, welche Freude es ihm bereitet, ein neues Buch von der Zellophanhülle zu befreien und daran zu schnuppern. Die wahren Gourmets.
In solch einem Schönheitswettbewerb ist Reif Larsens Kleinod, das bei S. Fischer in aller Sorgfalt herausgebracht wurde, allerbestens aufgehoben. Das Buch befriedigt einen unterschwelligen oder sogar offenen Sammlerinstinkt, der in jedem von uns steckt und danach trachtet, sich mit schönen Dingen zu umgeben, sie aufzuheben, beiseite zu legen. Kurz, im Raritäten-Gestaltungswettbewerb gehört »Die Karte meiner Träume« in eine vordere Reihe, wenn nicht aufs Treppchen.
»Die Karte meiner Träume« ist die Geschichte des 12-jährigen T. S. Spivet aus Montana, der alles, was er beobachtet und fühlt, bedenkt und erlebt, in Skizzen, Zeichnungen oder Diagramme überträgt. Diese Geschichte fesselt nur kurz, ehe sie in ihrer ausgebreiteten Entfaltung zu langweilen beginnt. T. S. Spivet, der eigenbrötlerische, wache Junge aus dem Westen, der mit seinem kauzigen Rancher-Vater, bis zu dessen Gewehr-Unfalltod mit seinem Bruder sowie mit seiner seltsam entrückten Mutter aufwächst, die hartnäckige Käferforscherin ist und von ihrem Sohn Dr. Clair genannt wird, dieser Junge ist begeisterter und begnadeter Zeichner. Mit Erfolg beteiligt er sich an Wettbewerben, doch ohne sein Wissen reicht einer seiner Lehrer Arbeiten des Noch-nicht-Teenagers für einen nationalen Wettbewerb der Smithsonian Institution in der US-Bundeshauptstadt ein. Die Smithsonian an Washingtons berühmter Mall, die Capitol Hill mit Lincoln-Denkmal verbindet und an seinem Weg große Einrichtungen, Museen und, etwas zurückgesetzt, auch das Weiße Haus auffädelt, ist eine wahrhaft berühmte, 1846 gegründete, nach dem britischen Chemiker James Smithson benannte und heute aus 13 Museen bestehende wissenschaftliche Institution, die sich der Popularisierung vieler Wissensgebiete verschrieben hat.
Die Smithsonian Institution nun kürt die Arbeiten von T. S. Spivet zum Sieger und lädt ihn, in der Annahme, dass es sich dabei nur um einen ausgewachsenen Mann handeln kann, nach Washington D.C. ein, eine Rede zu halten und den Preis entgegenzunehmen. Der Jungspund nimmt auf der Ranch im Westen den Einladungsanruf entgegen, sagt nach anfänglichem Zaudern zu und bricht ohne Wissen der Eltern heimlich Richtung Hauptstadt auf. Er hat wenig Geld und reist in der amerikanischen Landstreicher (»Hobo«)-Tradition mit Güterzügen heimlich seiner Ehrung entgegen.
Dabei erlebt er naturgemäß mancherlei. Vieles ist belanglos, ohne sonderlichen Erkenntnisgewinn oder auch nur Unterhaltungswert, fast alles, was die Kinderseele berührt, kartografiert sie: ein Spatzenskelett, den Verlauf des Gewehrschusses (der seinen jüngeren Bruder Layton tötet), den Entwurf für eine Vorrichtung zum Eiabwurf vom Dach des Empire State Building, den Salzgehalt von fünf unbekannten Flüssigkeiten, Varianten des Erbsen-Wutkreislaufs, nervöse Handbewegungen, Träume, Tramper-Zeichen, selbst Gerüche ...
Die Spielwiese, die daraus für das Buch entsteht, das man einen Roman zu nennen zögert, ist bunt, ja märchenhaft und assoziiert irgendwann auch »Alice im Wunderland«. Sie breitet sich nicht in herkömmlichen Fußnoten am Seitenende aus, sondern in mäandernden Marginalien am Seitenrand, oft so ausgreifend, dass die interessanten Marginalien die Hauptrolle beanspruchen und den ohnehin unerheblichen Fließtext des Romans noch mehr in den Schatten drängen. Am Ende will das Gefühl nicht weichen, ein aufsehenerregendes, irgendwie spinnertes Kunstwerk gesehen zu haben. Ein Kalb mit zwei Köpfen. Zum Beispiel.
Reif Larsen: Die Karte meiner Träume. Aus dem amerikanischen Englisch von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag. 444 S., geb., 22,95 €.
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