Träume und Trümmer
»Gertrud« von Einar Schleef am Berliner Maxim Gorki Theater
Gertrud, Schleefs Mutter: lebenslange Gewährsfrau und Medium des Sohnes. Sie ist Einars Notwehr, als der Regisseur und Bühnenbildner in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts die ihn mürbende DDR verließ und im Westen Herr seiner Verlorenheiten und Verstörungen und Verstiegenheiten werden wollte. Werden musste. Es nicht konnte. Er schreibt über Gertrud so, wie man ein Rauschmittel nimmt; die Mutter bekommt das rasende, detailplatzende, atemberaubend auswuchernde Romanwort, und das drangvolle Gedächtnis der Frau entäußert ein Leben, das Zeitgeschichte zwischen Weimarer Republik, Drittem Reich und sozialistischem Deutschland als ununterbrochene Folge persönlicher, familiärer Schicksalsschläge wahrnimmt. Und spiegelt.
Der Mann tot, die Söhne beide weg. Gertrud aus Deutschland, das ewig Archaische in seiner dreckigsten Gestalt: Sangerhausen. Die Schleef-Heimat, von wo alle Wege ins Unbehauste führen. Auch der Weg in die eigene Wohnung. Die Mutter ist im Roman die lustkreischende, sehnsuchtsgeile, alltagsgeplagte, illusionsbereite, plagenstapfere, notverzehrte, notgesättigte Jung-Frau und Altersgestalt – in der ewigen Endstation Leben. Dieses Leben durchkauen, um damit fertigzuwerden. Dass man aus Kriegen in einen Frieden kommt, ist nur Teil eines Kreislaufs, der in neue Kriege führt. In der Welt, in der Welt daheim. Träume und Trümmer überlagern einander, ein warmes Haus ist das nicht. Der Text hallt wider von Verzweiflungen und Trotzschreien, eine Tochter ist dies von Becketts Krapp, der seinem letzten Band nachsinnt.
Jens Groß hat »Gertrud«, dieses wahre Ungetüm an Roman, für die Bühne bearbeitet; seit einigen Wochen ist das Stück, das im schauspiel frankfurt Premiere hatte und zum vorjährigen Theatertreffen Berlin eingeladen war, nun auch am Berliner Maxim Gorki Theater zu sehen, Regie: Armin Petras. Vor Jahren gab es eine monologische Version am Berliner Ensemble: Edith Clever (gemeinsam mit Dieter Sturm auch Autorin der Vorlage) bot ein hochkünstliches Exerzitium der Überlebens-Rituale; jeder Ton war, als erstarre die Wahrheit vor ihrem eigenen Anblick.
Petras nun zielt ins Clowneske. Vier Frauen – Friederike Kammer, Sabine Waibel, Regine Zimmermann und Anne Müller – »teilen« sich die Gertrud; es entsteht ein verzweifelt verschmitztes, beinah grotesk daseinsvernarrtes, noch in Sterbensnähe aufglühendes Gemüts-Panorama. Als schaue ein Mensch in drei Spiegel, aus denen die eigene Erzählung, die eigene Erinnerung als fremdes Märchen mit fremder Stimme widerklingt. Verstärkung, Verzerrung, Kommentar und Korrektur, Vier teilen sich eine Erfahrung – Petras inszeniert das mit der ihm eigenen aufgedrehten Technik der Naivmalerei; er lässt seine Gertruds auf einem unsicheren Grund von Balken balancieren, sitzen, springen, abtauchen (Bühne: Olaf Altmann), kein fester Boden das Leben; den Lauf der rinnenden Jahre fasst er ins verblüffend einfache Bild, Gertrud unzählige Jacken, Schürzen, Mäntel übereinanderziehen zu lassen – veränderte Mode als Signum dafür, wie die Zeiten wechseln, ohne sich je ändern.
Eine kurzweilige, intelligent rhythmisierte Inszenierung und die Stunde von vier Komödiantinnen, die abwechselnd grelles Begehren, hochjagende Lust, ledernes Aushalten und stummes Verdämmern ins Spiel bringen. Einar Schleef (1944-2001) hat mit dem harten Realismus seines Romans in die Lücken zwischen Erinnerung und Geschichtsschreibung geblickt, Armin Petras macht aus diesem Blick ein tolldreistes Stück Theater: Welt ereignet sich in den Verlusten, freilich so, dass darin das Wort Lust lesbar bleibt, und sei es nur als Schatten auf den allzu klaren Dingen.
Nächste Vorstellung: 19. November
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