»Der Messias kommt erst, wenn die Araber weg sind«
Während die Welt das Westjordanland im Blick hat, nimmt jüdische Siedlungsaktivität in Ost-Jerusalem immer mehr zu
Nach eigener Auskunft hat Ahmed al-Qarain beobachtet, wie vor dem Haus ein bewaffneter jüdischer Siedler seinen Sohn Ali bedrohte. Als er diesem zu Hilfe eilte, schoss ihm der Siedler mit einer M16 in den rechten Oberschenkel und ins linke Knie; dann feuerte der in Zivil gekleidete Israeli, der zur Zeit seinen Wehrdienst leistet, auch noch auf den 13-jährigen Amir Salman al-Frukh. Ahmed wurde in einem Privatwagen abtransportiert und erreichte erst spät, da von mehreren Polizeistreifen aufgehalten, das Krankenhaus. Das alles geschah in unmittelbarer Nähe des Besucherzentrums der »König-David-Siedlung«.
Der Nahostkonflikt ist auch ein Kampf um Geschichte. Das ist hier in Silwan, nicht einmal 100 Meter von der Jerusalemer Altstadtmauer entfernt, seit Jahren offensichtlich. Als israelische Archäologen behaupteten, sie hätten den Palast König Davids gefunden, war es mit der Beschaulichkeit Silwans vorbei. Die Aussagen der Archäologen wurden von Fachkollegen entweder belächelt oder in Frage gestellt, von nationalistisch oder religiös motivierten jüdischen Siedlern jedoch als Auftrag zum Besiedeln aufgefasst.
Auch die Archäologie wird zum Kampffeld
Ähnlich wie in Hebron 500 Siedler inmitten von 170 000 Palästinensern unter großem Sicherheitsaufwand leben, nur um nahe am Grab Abrahams zu sein, so möchten immer mehr Siedler im Umkreis der angeblichen Davidstadt wohnen. Viele der 55 000 Einwohner Silwans haben das schon leidvoll erfahren müssen. Immer wieder brachen arabische Palästinenser plötzlich durch den Fußboden ihrer Häuser und stürzten einige Meter tief in Gruben oder Stollen, wo sie sich neben jüdischen Siedlern wiederfanden, die auf eigene Faust das Erdreich Silwans nach Spuren der Davidstadt durchsuchten. Yair Zakovitch, Professor für Biblische Studien an der Hebräischen Universität Jerusalem, betrachtet das archäologische Treiben sehr kritisch, wenn er sagt: »Jerusalem ist ein sensibler Ort, und jeder bedient sich der Ausgrabungen, um das zu beweisen, was er beweisen will.«
Selbst Archäologie ist in Israel und Palästina politisch durchtränkt. Während manche israelische Wissenschaftler grundsätzlich in Zweifel ziehen, dass König David überhaupt gelebt hat, verkündet die Internetseite »City of David« hebräisch, englisch, russisch, französisch und spanisch: »Die ›Stadt Davids‹ ist der tatsächliche Ort der biblischen Stadt Jerusalem, die von König David vor über 3000 Jahren erobert wurde.«
Die dahinterstehende, 1986 gegründete Stiftung »Ir David« fühlt sich dem Erbe König Davids verpflichtet, was sich in vier Schlüsselaktivitäten niederschlägt: Ausgrabungen, Entwicklung des Tourismus, Bildungsprogramm und »residential revitalization«, was nichts anderes heißt als: Juden sollen dort wieder angesiedelt werden, wo seit Jahrhunderten arabische Palästinenser leben.
1991 zogen die ersten Siedler nach Silwan; mittlerweile sind es 60 jüdische Familien. Heute, so behauptet die City-of-David-Internetseite, lebe dort eine »blühende jüdische Gemeinschaft«. Dass diese seitdem der palästinensischen Bevölkerungsmehrheit das Leben zur Hölle macht, verschweigt die Seite. Siedler besetzten Häuser von Palästinensern. Zusätzlich hat die Stadtverwaltung Land enteignet oder Palästinensern ihr Aufenthaltsrecht aberkannt. 88 weiteren Häusern droht der Abriss.
In Silwan herrscht Tag für Tag Krieg – und Touristen und Pilger bekommen ihn nicht zu Gesicht. Es ist ein Krieg der israelischen Bürokratie und der Siedlerbewegung Elad gegen die arabischen Palästinenser. Der israelische Rechtsanwalt und Friedensaktivist Daniel Seidemann beobachtet die Siedler seit Jahren mit größter Sorge. Was er »die radikalsten Änderungen seit 1967« nennt, ist für den Gründer von Ir Amim (Stadt der Völker) der Kampf um Land in Jerusalem, den jüdische Siedlergruppen wie Ateret Cohanim und Elad führen. Sie wollen in der und um die Altstadt – das so genannte Heilige Becken – mit vielen Bauvorhaben eine »starke jüdische Dominanz« herstellen.
Jüdischer Ring um Jerusalems Altstadt
Ähnlich deutet sein Landsmann, der preisgekrönte Journalist Meron Rapoport, die Siedlungsaktivitäten: »Die jüdische Siedlung in Ir David/Wadi Hilweh ist Teil eines jüdischen Ringes, der um die Altstadt entstehen soll.« Das soll eine politische Lösung vereiteln, meint Rapoport, und den freien Zugang von Palästinensern zum Tempelberg mit Al-Aksa-Moschee und Felsendom verhindern – genau das, was Palästinenser als Grundvoraussetzungen für eine künftige Hauptstadt Palästinas in Ost-Jerusalem erachten.
Schon sprechen Kenner der Lage in Silwan von Verhältnissen wie in Hebron. Jochen Stoll ist einer von ihnen. Die von Pax Christi und vom Forum Ziviler Friedensdienst nach Jerusalem entsandte Friedensfachkraft bilanziert nach zwei Jahren in Jerusalem: »Es gibt eine Bestrebung, ganze Stadtteile zu judaisieren, das heißt Palästinenser zu vertreiben und Juden anzusiedeln. Die jüdischen Menschen kommen nicht als Nachbarn, sondern als Siedler, als Besatzer, als die, die die Macht haben.« Das erfuhr auch Rapoport kürzlich beim Besuch in Silwan. Ein Siedlermädchen sagte ihm ungefragt: »Jerusalem ist unsere Stadt – für uns Juden. Was für ein Pech, dass hier Araber leben. Der Messias wird erst dann kommen, wenn kein Araber mehr da ist.«
Rapoport befürchtet einen neuerlichen Ausbruch von Gewalt. Als Opfer eines solchen liegt Ahmed nach wie vor in der Universitätsklinik Hadassah. Fest steht schon jetzt: Ahmeds Bein wird zwei Zentimeter kürzer sein; die Reha-Maßnahme wird Monate in Anspruch nehmen.
Nach der Entlassung, so erzählt Stoll, wird Ahmed al-Qarain, erst einmal vor Gericht erscheinen müssen, denn er ist angeklagt, einen Soldaten angegriffen zu haben. Möglicherweise wird Qarain statt in einer Reha-Klinik im Gefängnis landen; der Täter wurde bereits nach einigen Stunden des Verhörs auf freien Fuß gesetzt. Für Stoll, der mit Christen, Juden und Muslimen zusammenarbeitet, steht fest: »Die von uns Deutschen propagierte ›einzige Demokratie im Nahen Osten‹ versagt total – sie ist für Palästinenser einfach nicht existent.«
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