Alles purer Zufall, nur Glück?

Bücher zur Geschichte der Mauer und dem »glücklichsten Jahr« der Deutschen

Wenn im Sommer die Sonne schien oder wenn ein lauter Abend hereinbrach, war es hier besonders behaglich … Man legte die Würstchen auf den rauchenden Grill oder die Steaks, packte den Kartoffelsalat aus und machte sich auf den Campingsstühlen bequem. Es war hier so himmlisch ruhig, kein Verkehrslärm; überall grünte und blühte es. Und das mitten in der Stadt .. Die hohe Mauer, an die man die Bierkästen gestellt hatte, bot Vorteile. Jedenfalls hier im Westen; im Osten kam man ja nicht an sie heran. War das Leben nicht schön?« So beginnt Edgar Wolfrum seine Geschichte einer Teilung. Mitte der 70er Jahre habe man sich an die Mauer gewöhnt, scheibt er. »Wen störte sie noch? Zur Gewöhnung gesellte sich Gleichgültigkeit. Das Desinteresse ging meistens so lange gut, bis ganz plötzlich wieder einmal Schüsse aus Maschinengewehren zu hören waren, die einen zusammenzucken ließen und jäh aus dem Tagtraum herausrissen.« Da möchte man nicht weiterlesen. Da weiß man, was noch kommt.

Die Ahnung wird bestätigt. Die Feder des Professors in westlicher Provinz, weit ab von Berlin, in Heidelberg, ist flink und frech: »Fast am Unerträglichsten sind die Bilder von NVA-Offizieren, die in die Kameras des westdeutschen ›Klassenfeindes‹ grinsten, sich mit Inbrunst in Pose setzten und am Leid der Mitmenschen, die oft, ohnmächtig vor Wut und Schmerz, in Tränen ausbrachen, ergötzten.« Die Grenzer – nicht nur schießwütig, sondern auch kaltherzig, kaltblütig. Allesamt.

Hier sind die sattsam bekannten Klischees und Behauptungen versammelt, von (dem nicht dokumentierten, nur per Ohrenzeuge überlieferten) Ulbricht-Wort »Es muss alles demokratische aussehen« bis hin zum »Schießbefehl«. Wolfrum streitet auch mit westdeutschen Zunftkollegen. Er kann nicht verstehen, wieso die DDR »Stalins ungeliebtes Kind« (so der Titel eines klugen Buches von Winfried Loth in Essen) gewesen sein soll und nennt die Stalin-Note von 1952 ohne Abwägung der Argumente einen »großen Bluff«. Die Neue Ostpolitik von Brandt und Bahr bekommt auch ein paar Seitenhiebe ab. Nach dem Grundlagenvertrag zwischen der DDR und BRD »wurde auf der Ostseite ... weiter auf Flüchtlinge geschossen – jetzt eben ›gutnachbarlich‹, wie man zynisch anmerken könnte«. Und Wolfrum schildert drei »Hinrichtungen«. Als ob das Sterben an der Grenze nicht tragisch genug war, wird hier hollywoodmäßig spektakulisiert.

Interessant ist das Schlusskapitel, in dem der Autor an Mauern in der Weltgeschichte erinnert, vom Hadrianswall und dem Limes der alten Römer (zur Abwehr der Barbaren) über die Chinesische Mauer bis hin zu der sieben Meter hohen Mauer zwischen den USA und Mexiko, dem Anti-Terrorzaun im Westjordanland und der von der US-Army in Bagdad errichteten Betonmauer, die Sunniten und Schiiten voneinander trennen soll. »Hatten die kommunistischen Diktaturen im vorigen Jahrhundert ihre Bevölkerung eingesperrt« (wieder eine pauschale Aussage, die nicht auf Polen, Ungarn, Bulgaren zutrifft), »so sehen wir derzeit eine Einmauerung des reichen Westens«. Wohl wahr. Von der »großen Mauer des Kapitals« sprach der US-Soziologe Mike Davis.

Doch bleiben wir in Deutschland. Eine unsichtbare Mauer zieht sich an der einst deutsch-deutschen Grenze entlang. Sichtbar wird sie in der kartografischen Umsetzung von Statistiken zu Arbeitslosigkeit, Einkommensverhältnissen, Renten und Kinderarmut. Michael Funken, der die glückliche Geschichte von Mauerfall und deutscher Einheit erzählen will, kann nicht nachvollziehen, dass sich viele Ostdeutsche »kolonialisiert« und als Deutsche zweiter Klasse behandelt fühlen. Er streitet u. a. mit Siegfried Wenzel, dem ehemaligen Vizechef der Staatlichen Plankommission der DDR, weil dieser die Plünderung des Ostens durch westdeutsches Kapital und Großagrarier offen ausspricht. Auch der ehemalige DDR-Diplomat Ralph Hartmann (»Die Liquidatoren«) wird angezählt. Funken meint: »Bei dieser Jammerlage gerät leicht in Vergessenheit, wie viel Glück die Deutschen gehabt haben, dass die Revolution in der DDR so friedlich verlaufen ist und dass der Beitritt zur Bundesrepublik so reibungslos funktioniert hat«. Indes, Glück ist ambivalent. Glück macht nicht satt.

Funken hat sein Buch nicht uninteressant aufgemacht. Er fädelt zehn »Glückfälle« 1989/90 auf, darunter: Dissident Roland Jahn wird ausgebürgert … und bringt die DDR-Opposition in die Massenmedien; Honecker ist krank … und hinterlässt eine orientierungslose DDR-Führung; Kaplan Richter trifft VoPo Papermann … und verhindert einen Bürgerkrieg in Dresden; Helmut Kohl wird nicht gestürzt … und nutzt seine »Männerfreundschaften« für die Einheit; keiner versteht Günter Schabowski … und so bringt eine Falschmeldung die Mauer zu Fall; Gorbatschow entgeht einem Putsch … und entlässt die DDR in Einheit und NATO-Mitgliedschaft. Es stört jedoch auch hier die ideologisierte Kommentierung.

Funkens Fazit: »Es war mehr Glück als Verdienst im Spiel, und die Menschen dürfen sich glücklich schätzen, dass es so gekommen ist.« Umgekehrt. Es war mehr das Verdienst vieler Akteure, das 20 Jahre danach das Glück gelobpreist werden kann. Es war der Druck der Straße. Und es waren die Grenzer. Nicht etwa, weil diese sich an Vorschriften nicht hielten, floss kein Blut. Umgekehrt (siehe Faksimile). Dass aber jene, denen das Verdienst des unblutigen Einsturzes der Mauer wie auch unblutiger Tage davor und danach, bei den Feiern dieser Tage – bis auf wenige Ausnahmen – weder geehrt noch angehört wurden, ist typisch deutsche Erinnerungskultur.

Dafür feiert sich das ZDF als Maueröffner. Der Sender hat sich mächtig ins Zeug gelegt – zum Jubiläum. Zu den Filmen gibt es die Bücher. So von Florian Huber »Schabowskis Irrtum«. Auch er bezieht sich stark auf Hans-Hermann Hertle vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, der sich schon lange und am intensivsten befasst hat mit dem Gestammele des »Pressesprechers des ZK«, wie eine Moderatorin im ZDF-Frühstücksfernsehen am Montag dieser Woche Politbüro-Mitglied Schabowski titulierte. Offenbar war Huber nicht allzusehr von eigener Neugier getrieben, denn sonst hätte er tiefer gehende Fragen hinsichtlich der doch mehr als dubios erscheinenden Zettelwirtschaft und dem frappierendem Timing auf der Pressekonferenz an jenem Tag stellen müssen. Gab es hinter der Konfusion nicht doch klar kalkulierende und agierende Kräfte? Es müssen ja nicht immer der KGB oder Abgesandte des Kremls gewesen sein.

Der Sowjetbotschafter Wjatscheslaw Kotschemassow, liest man bei Huber, hat nach Schabowskis Pressekonferenz ein Schlafmittel eingenommen und den Gesandten Igor Maximytschew allein in der Mission Unter den Linden wachen lassen. Und dieser beklagt aus seiner Sicht: »Keiner der DDR-Offiziellen hat uns angerufen, und wir konnten niemanden von ihnen ans Telefon bekommen. Wir hatten den Eindruck, dass die ganze Führung der Deutschen Demokratischen Republik wie vom Erdboden verschluckt war.« Maximytschew entschied sich, Moskau nicht zu informieren, da man dort sicher bereits Bescheid wisse und dies außerdem nur Rückfragen provozieren würde: »Hier gab es nichts vorzuschlagen, man musste die Lage so akzeptieren, wie sie war.«

Edgar Wolfrum: Die Mauer. Geschichte einer Teilung. C.H. Beck. 192 S., geb., 16,90 €.
Michael Funken: Das Jahr der Deutschen. Die glückliche Geschichte von Mauerfall und deutscher Einheit. Pendo. 255 S., geb., 18 €; brosch. bei Piper für 8,95 €.
Florian Huber: Schabowskis Irrtum. Das Drama des 9. November. Rowohlt. 220 S., geb., 17,90 €.

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