Inklusive Bildung nicht inklusive

Der Paradigmenwechsel in der Behindertenpädagogik lässt nach wie vor auf sich warten

  • Guido Sprügel
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Ruf nach der schulischen Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Gesellschaft ist schon alt. Bereits vor mehr als 30 Jahren forderten Eltern behinderter Kinder die Abschaffung der Sonderschulen und die Integration ihrer Kinder in die allgemeine Schule. Die Universitäten bemühten sich seither ebenfalls, die angehenden Pädagogen, vornehmlich jedoch die Sonderpädagogen, für einen Paradigmenwechsel zu begeistern und die Aufhebung der Sonderbeschulung zu fordern. Geschehen ist seitdem relativ wenig. Sicherlich gibt es in den einzelnen Bundesländern Leuchtturmprojekte, die die integrative Beschulung in der Praxis probierten – von einer umfassenden Tendenz in Richtung integrativer Beschulung kann jedoch keine Rede sein.

Abschaffung der Sonderschulen

Der Behindertenbericht der Bundesregierung 2009 bestätigt dies: »In Deutschland besuchen nur 15,7 Prozent der behinderten Kinder und Jugendlichen gemeinsam eine Schule mit Nichtbehinderten.« Ein ernüchterndes Ergebnis, zumal die Bundesregierung im März 2009 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ratifiziert hat. Deutschland hat sich damit verpflichtet, Schüler mit und ohne Behinderung von Anfang an gemeinsam zu unterrichten und zu fördern. Die gesellschaftliche Ausgrenzung soll ein Ende haben. Doch entschärfte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die Konvention vorsorglich vor der Ratifizierung, indem das englische »inclusive« mit »integrieren« übersetzt wurde. Während Inklusion die uneingeschränkte Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder von Geburt an bedeutet, sehen einige Kultusminister der Länder den Begriff der »Integration« als bereits erfüllt an. Schließlich bereiten die Sonderschulen ihre Schüler auf ein Leben in der Gesellschaft vor – sie sehen die Schüler durch die Förderung der Sonderschule in die Gesellschaft integriert. Einen besonderen Handlungsbedarf für die Erfüllung der Konvention sehen sie somit nicht.

Das nordrhein-westfälische Schulministerium hebt die Vielzahl der unterschiedlichen Förderorte geradezu als innovativ hervor. »Die Vielfalt der Organisationsformen und die Pluralität der Förderorte sind eine Bereicherung«, heißt es in einer Verlautbarung des Ministeriums. Auch in den anderen Bundesländern gibt es, bis auf Hamburg und Bremen, nach der Ratifizierung der Konvention kaum bildungspolitische Entscheidungen, die den Weg zu einer integrativen Beschulung forciert vorantreiben. Alle Bundesländer haben zwar den Vorrang der Integration in ihre Schulgesetze schon seit Längerem aufgenommen, ihn aber stets an »personelle, sachliche und organisatorische Voraussetzungen« gekoppelt – sprich, wenn kein Geld da ist, gibt es keine Integration.

Behindertenselbsthilfegruppen bemängeln diese Einschränkung schon seit Langem. Sowohl die Lebenshilfe, als auch die Elternorganisation »Gemeinsam leben – Gemeinsam lernen« fordern die Abschaffung dieser Einschränkung und eine konsequente Ausrichtung auf die integrative Beschulung. Zusammen mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) verlangen die Behindertenselbsthilfeverbände in dem Manifest »Inklusive Bildung – jetzt!« die verbindliche Ausrichtung der Schullandschaft in Deutschland an den Kriterien der »Inklusion«, d.h. Abschaffung der Sonderschulen.

Die aktuelle Situation der Schüler mit Förderbedarf gibt ihnen Recht. In Deutschland besuchen knapp 480 000 Kinder eine Sonderschule. Knapp die Hälfte von ihnen besucht eine Förderschule im Bereich Lernen. Rund 77 Prozent verlassen diese jedes Jahr ohne jedweden Abschluss. Der Behindertenbericht der Bundesregierung kommentiert diese katastrophale Zahl lapidar: »Die Bundesregierung (nimmt) die Sorge ernst, dass der Besuch einer Förderschule für ein Kind mit Behinderung nicht immer seine Bildungs- und Berufsperspektive angemessen fördert.« Eine sehr euphemistische Beschreibung für das Scheitern des Systems. Denn auch die berufliche Integration der ehemaligen Förderschüler funktioniert in Deutschland nach der Schule nicht. Nur rund 12 Prozent erhalten einen Ausbildungsplatz, weitere 20 Prozent landen in Helferberufen. Der große Rest wird in die Arbeitslosigkeit entlassen.

Auch Martin Röser vom Hamburger Verein »Leben mit Behinderung« kritisiert die mangelnden beruflichen Perspektiven der behinderten Schüler. »Viele Schüler mit geistiger Behinderung arbeiten in Werkstätten für Behinderte, obwohl es durchaus möglich wäre, Arbeitsplätze in »normalen« Unternehmen zu schaffen«, berichtet der Bereichsleiter für den Hamburger Westen gegenüber ND. Er sieht die Bundesrepublik meilenweit von der Erfüllung der UN-Konvention entfernt. »Innerhalb der europäischen Union nimmt Deutschland einen der letzten Plätze ein«, bestätigt auch der Geschäftsführer Klaus Lachwitz von der Bundesvereinigung Lebenshilfe. In anderen europäischen Ländern findet eine integrative Beschulung in bis zu 80 Prozent der Fälle statt. Finnland hat überhaupt keine Förderschulen mehr.

Hamburg und Bremen als Vorbilder

Einzige Hoffnungsschimmer scheinen im bundesweiten Vergleich im Augenblick nur Hamburg und Bremen zu sein. In Bremen sollen die Förderschulen nach und nach abgeschafft werden – ohne konkrete Jahresangabe. Und in Hamburg entscheidet der Senat in den nächsten Monaten über eine Novellierung des Schulgesetzes. Dann soll der Passus der »personellen, sachlichen und organisatorischen Voraussetzungen« für die Integration gestrichen werden. Eine Zustimmung gilt als sehr wahrscheinlich.

Die Änderung hätte weitreichende Konsequenzen für die Hamburger Schullandschaft. Denn neben der Streichung soll auch der Elternwunsch stärker berücksichtigt werden. Auf dem Papier könnte diese Neuregelung auf eine schnelle Auflösung der Förderschulen hinauslaufen. Und die ersten Sonderpädagogen schauen sich bereits nach Stellen in den neu entstehenden Primar- und Stadtteilschulen um. »Ich möchte nicht irgendwann einfach versetzt werden, ohne zu wissen wohin ich komme!«, so die 36-jährige Patricia Lohse.

So schön die Entwicklung in Richtung Auflösung der Sonderschulen auf den ersten Blick sein mag, so schmerzlich vermisst man bei genauerer Betrachtung ein Konzept für die Integration der behinderten Schüler. Denn noch ist überhaupt nicht klar, wie die Integration flächendeckend in die Praxis umgesetzt werden soll. Die GEW äußert bereits erste Sorgen, dass der Prozess hin zur integrativen Beschulung ein Sparmodell werden könnte. »Welche Mittel zusätzlich zur Verfügung gestellt werden, ist vollkommen unklar!«, so der Vorsitzende der GEW Hamburg, Klaus Bullan, gegenüber ND.

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