Schmerz gehört zur Hoffnung
Ernst & Karola Bloch und Jürgen & Johanna Teller: Briefe durch die Mauer
Die erzählerische Fülle dieses Briefbandes ist enorm. Es werden die Ehepaare Karola und Ernst Bloch, Johanna und Jürgen Teller in gegenseitiger An-Rede lebendig, das kann nicht annähernd hier beschrieben werden. Nur als Fazit: Welch ein schöner Aufwand des Schreibens! Aus Buchstaben Begegnungen werden zu lassen, als gehe da keine Schrift, sondern tatsächlich ein Gespräch durch die Mauer! Und ohne die Blochs zurückdrängen zu wollen, deren Werk und Wesen vielfach öffentlich wurde: Nach dem im Lehmstedt-Verlag erschienenen packenden Band mit Briefen Jürgen Tellers an Freunde ist dieses nun vorliegende Buch vor allem ein weiterer gehobener Wort-Schatz aus dem Leben dieses gütigen, zuwendungskräftigen Philosophen und leidenschaftlichen Verlagsmenschen. Und Bloch-Treuen! – durch fade Jahre hindurch, in denen dogmatischem Deutern der Welt das Scheingefühl der einzig legitimierten Sinnverwaltung gestattet war. »Bloch ist nun in aller Munde«, schreibt Teller 1985 an Karola Bloch, »wäre er nur auch in aller Herzen, und sei es wenigstens in zerknirschten! Doch sei's drum: die Wege zur angemessenen Wirkung sind verschlungen, und die Wirkung wird wachsen, auch wenn so manche ihrer nachträglichen Profiteure nicht das Recht haben, recht zu haben.«
Jürgen Teller (er starb 1999) ist in den fünfziger Jahren in Leipzig Bloch-Schüler, dann Assistent, dann Freund, er wird nach Blochs Bedrängung durch die vorgeblich marxistische Zentralintelligenz der SED (DDR-Selbstanschauung statt offene Weltanschauung) aus der Partei entfernt, in die Produktion geschickt, verliert an einer Maschine einen Arm, wird später Lektor. Der Band sammelt Briefe aus der gemeinsamen Leipziger Zeit bis 1961, aus den Jahren bis zum Tode Blochs 1977, der mit seiner Frau in Tübingen lebte, und aus der Zeit danach, bis 1994, da Tellers ausgiebig mit Karola Bloch korrespondierten.
Das Briefeschreiben erfährt der Leser dieses Buches als geradezu mystische Unterströmung des realen Lebens; das Botschaftenwechseln, ein weißer Gedankenvogelflug hin und her, von Insel zu Insel, übers wahrlich feste, festgefügte, schlimm befestigte Land hinweg; man sieht den Geist nicht, wie er seine Seelenwanderung betreibt, dieser Transport von Bewusst-Sein, geheim unterm Schirm des »Postgotts« (Siegfried Unseld) – der Brief ist das Unsichtbare in den Lüften, die der Stillstand dickrührte. Plötzlich, nach dem Lesen, geht man ehrfürchtiger an den Briefkästen vorbei, die wohl mählich aus den Landschaften verschwinden, und wer Reiner Kunzes »Variationen auf die Post« kennt, weiß wohl, was mit dem Lob des gelben Geschäfts gemeint ist: Post als Kassiber, als Mutprobe, als Freiheit des Bekennens unterm Druck, sich verbergen zu müssen. Sich öffnen heißt: sich ausliefern – nicht nur den Freunden. Der schriftliche Grenzverkehr – nicht nur ein vorsorgliches, sondern auch selbstironisches Spiel mit Decknamen (Marcion, Polonia, Tellheim, Minna).
So persönlich, so privat diese Briefe sein mögen, die Zeit, der Raum reißen sie ins bedrängend Gesellschaftliche. »Tauwetterperioden sind nichts weiter als das Atemholen neuer Eiswinde«, Teller 1963. Das Politgebilde DDR etwa erscheint wie ein Körper ohne Glieder, eine Ansammlung von Hohlformen, in die das Leben, die ganz andere Idee einströmen wie eine Gefahr, die das Hohle sprengen könnte. Der Sozialismus als Wunde, die nur immer an Individuen vernarbt.
Als Teller 1961 nach Blochs Weggang aus der DDR »freundlich und höflich« ins Verhör genommen wird, ob er bereit sei, sich von seinem Lehrer zu distanzieren, in Kampagnen gegen diesen einzustimmen, öffentlich auf westliche Bloch-Bekundungen von Günter Zehm und Gerhard Zwerenz zu antworten, da gibt der Schüler, wie er selbst schreibt »galileische« Antworten, ein Ausweichen, Hinhalten, Ruhigstellen – »ich bin sicher, daß Sie, eingedenk der finst'ren Zeiten, denen Sie entronnen sind, nicht mit mir darob hadern«, schreibt er an Bloch.
Aber einer Zurücknahme der Doktorarbeit, von Bloch begutachtet, verweigert er sich. Teller verständigt sich mit dem Leipziger Prodekan, aber auch der ist »etwas aufgebracht« wegen Blochs »Illoyalität Freunden gegenüber«, denn schließlich dürfe man doch den »schlechtesten Sozialismus immer noch für besser als den besten Kapitalismus« erklären. Worauf, so Teller an Bloch, »mir die Antwort auf den Lippen lag, dass der schlechteste Sozialismus allerdings kein Sozialismus mehr sei«.
»Einmal, wenn nicht alles umsonst war, werden die Larven verschwinden und die Gewalt der Utopie wird sich in das Gesicht des Menschen einprägen.« Teller 1958. Es klingt nicht lieblich, der Satz atmet die blochsche Härte einer unabwendbaren Freiheit, in welcher der Mensch auf eine Klugheit des natürlichen vernünftigen Handelns zurück- und zugleich vorwärtsgeworfen ist, eine Tatergriffenheit dann, von der man nur hoffen kann, dass sie nicht überfordert.
»Der revolutionäre Geist Ernst Blochs wird sich durchsetzen, aber nur mit denen, die ihn begreifen und verwirklichen.« Schreibt Teller an Karola Bloch, zum Tode des großen Lehrers, im August 1977. Einer der traurigsten, schönsten Briefe des Bandes, noch einmal ein Porträt Blochs, der »im Geiste Goethes und Lessings gegen den Spediteur ins Nichts, die schärfste Gegenutopie angetreten ist, ohne Verheißung und Jenseitstrost, nur mit genauester Auslotung des Abgrunds und seiner Grenzen«.
Und von diesen Ausgangspunkten her wachsen Ohren für das Himmelschreiende und Sehschärfe für das nicht länger Mitanzusehende dieser Welt. Philosophie aber nicht als kryptischer Ausdruck des Zynischen oder als eitler Oberton über dem Grundton des wirklichen Menschenlebens, nein, Philosophie als immerwährende Betrachtung dieses Wirklichen – als einem Zustand des schmerzvollen »Noch nicht« in einer doch hoffnungsvollen Geschichte. Teller 1963: »Wie aber der Schmerz ein sehr massives Element der Enttäuschung ist, nicht nur bohrend, sondern auch bäumend gegen seinen Urheber, so gehöre er hier zur Hoffnung, nicht zur Resignation.« Du wirst nie erfahren, was sein wird, und bist doch schon ein Teil dessen.
Jan Robert Bloch nennt das in einem Brief, über seine Mutter schreibend, den »inneren Kommunismus«: sich unablässig transparent zu fühlen fürs kommende Höhere, dies aber nie zur avantgardistischen Macht- und Überhebungsgebärde missraten zu lassen. Weltveränderung denken, es erscheint revolutionärer als Weltveränderung in praxi betreiben zu wollen, und das gar in großem Stil. Der Rettungsanker ist nicht dort herabzulassen, wo das Wichtigste, Geschichte machend, in den Sand gesetzt wird: der Einzelne. Einzig »gute Menschen, wes Glaubens oder Unglaubens auch immer, lösen selbstverständlich etwas von dem althergebrachten Anspruch auf das ein, was heilig genannt werden könnte.« Jürgen Teller in einer Festschrift für Karola Bloch.
Briefe über den »Raubvogel USA«, über den Wohlstandsgierkapitalismus, »mit den Autos schaufeln sich die Industrieländer ihre eigenes Grab« (Karola Bloch stets klar, zornig, punktgenau), Briefe über die Suche nach dem wahren Leben (Jürgen Teller: »Ich möchte auf meine Tage noch ein bißchen wesentlich werden … man kann leider nicht der Empfehlung der Stoiker folgen und sich nur in Verhältnissen ansiedeln, die man beherrschen kann – weil man halt die Verhältnisse nicht wählen kann«). Es ist so töricht, welches Gemütsvermögen der Mensch auf die Waage legen muss in den elenden Verhältnissen, die überall und jederzeit ihren Bestand feiern – Tellers Briefe nach drüben sind nicht sorgenvoller als Blochs Nachrichtengebung aus dem Westen.
In diesen Briefen haben Weihnachtswunschzettel ebenso Platz wie das Leiden an Allendes blutigem Ende. Es ist ein Werk gefühlter Enge, gedachter Ausfuhr ins Weite der Vorstellungskräfte, man reißt einander gegenseitig Horizonte auf und ist sich dabei zufluchtnah wie eine Gewittergemeinschaft unter einem selbst gebauten Dach.
Jan Robert Bloch, Anne Frommann, Welf Schröter (Hrsg.): Briefe durch die Mauer. Briefwechsel 1954 bis 1998 zwischen Ernst & Karola Bloch und Jürgen & Johanna Teller. Mit einer Einführung von Welf Schröter und Irene Scherer. Talheimer Verlag Mössingen-Talheim. 344 S., brosch., 28 €.
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