- Kultur
- Bücher zum Verschenken 2009
Molodjez
Wladimir Kaminers Nachbarn
Der Mann ist sympathisch, steht zu seiner Schwiegermutter, er schimpft nicht auf sie, schämt sich ihrer nicht. Jedes Jahr wollen »Tausende Menschen Neues über meine Schwiegermutter erfahren«. Unlängst ist Wladimir Kaminer sogar mit einem Filmteam, einem kriegserfahrenen, das schon in Tschetschenien und Afghanistan gedreht hat, zu ihr in den Kaukasus gefahren, damit alle Welt sie kennen und schätzen lernt. Molodjez, Wladimir!
Mit der für einen deutschen Mann unvorstellbaren Liebeserklärung hat der Russe bei der Buchvorstellung in Berlin seine Zuhörer sofort für sich eingenommen, mehrheitlich muntere Akademikerinnen und Töchter aus gutem Haus. Die Premiere fand an exklusivem Ort statt, bei Bertelsmann Unter den Linden 1, wo nach dem Krieg die Komandantura der Roten Armee residierte. Wodka und Pelmeni gab es damals dort bestimmt auch, Champagner und Moroshenoje auf dem Dach mit atemberaubendem Blick auf die nächtliche, lichterfunkelnde deutsche Hauptstadt sicher nicht. Und wenn der Autor des Bestsellers »Russendisko« einlädt, kann man natürlich auch das Tanzbein zur Russendisko schwingen.
»Was nützt uns der schönste Sozialstaat, wenn die Kosaken kommen?«, hatte Strauß gewarnt. Sie sind längst unter uns. Wer hat keine russischen Nachbarn? Und wer kennt das nicht: Ständig brennt bei denen das Licht. Stets hört man sie singen oder fluchen. Tagsüber hocken sie zu Hause, nachts torkeln sie die Treppen herunter. Auch Kaminer findet sie befremdlich. Da ist der kommunikationswütige Andrej aus der Russen-WG, der das Deutsch-Russische Wörterbuch auswendig lernen wollte und schon beim »J« angelangt war, als er im Fernsehen »Big Brother« sah und feststellte, die Deutschen selbst nutzen ihren Sprachreichtum nicht. Das dämpfte seinen Lerneifer. Sergej kauft gern alte Bücher bei eBay, um sie wieder zu verkaufen. Sein spektakulärster Fang – das »Kapital« mit handschriftlicher Widmung: »Viel Spaß beim Lesen, mein Mäuschen. Dein Marx.« Sergej behauptet, Charly habe dieses erste Exemplar seiner Jenny geschenkt, weil die ihn andauernd mit der Frage genervt hatte, was er denn die ganze Zeit in der Bibliothek treibe.
In Kaminers neuem Buch erfahren wir Deutsche viel über uns, unsere Phobien, Vorurteile und Sehnsüchte. Wie wird man in Deutschland Milliardär? Über 50 gibt es. »Es sind in erster Linie Versicherungsvertreter sowie Kaffee- und Aspirin-Produzenten, weil sich die Deutschen stets um ihre Rente sorgen, aus Sorge zu viel Kaffee trinken und davon Kopfschmerzen bekommen.« Ein aufklärendes, aufklärerisches, amüsantes Buch. Wir danken dir, Wladimir.
Wladimir Kaminer: Meine russischen Nachbarn. Manhattan Verlag. 222 S., geb., 17,95 €.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!