Aus dem Kerker in den Regierungspalast
José Mujica, ein ehemaliger Stadtguerillero, wird Präsident Uruguays
Am 15. März 1985 wurde José Mujica Cordano wieder zu einem freien Menschen. Zigtausende Uruguayer feierten in Montevideo seine Freilassung. 13 Jahre zuvor war er zum wiederholten Male verhaftet worden (das erste Mal 1964 nach einem versuchten Banküberfall), und er verschwand als eine der sogenannten neun »Geiseln des Staates« in den Kerkern der bis 1985 herrschenden uruguayischen Militärdiktatur. Mehrere Jahre lang war er in ein Erdloch eingegraben (»In dieser Zeit habe ich gelernt, dass die Ameisen singen.«), wurde systematisch gefoltert und von einem Ort zum anderen verlegt. Niemand sollte wissen, wo er und seine Mitstreiter eingekerkert waren. Die Militärs hatten öffentlich bekundet, dass alle Geiseln überleben würden, wenn Ruhe herrscht: keine Proteste, keine Demonstrationen, keine bewaffneten Aktionen.
Pepe, wie er vom Volk genannt wird, überlebte. Er, der am 20. Mai 1935 während der Herrschaft des ersten uruguayischen Diktators Gabriel Terra geborene Sohn eines pleite gegangenen kleinen Viehzüchters. Und schon wenige Tage nach seiner Entlassung kündigte er an, dass der Kampf um eine gerechtere uruguayische Gesellschaft weitergehe, allerdings nicht mehr mit Waffengewalt.
Gut 24 Jahre später, am 29. November 2009, wurde José »Pepe« Mujica zum Präsidenten aller Orientales gewählt. So nennen sich die Einwohner des zweitkleinsten südamerikanischen Landes, das offiziell »Republik Östlich des Rio Uruguay« heißt. Zumindest für Lateinamerika ein historischer Tag: Eine Karriere aus dem Folterkeller in den Präsidentenpalast ist auch im heutigen Lateinamerika einzigartig. Das Leben »Pepe« Mujicas könnte die spannende Vorlage für ein filmreifes Drehbuch sein.
Mujica, der von 2005 bis 2008 als Minister für Landwirtschaft in der ersten Mitte-Links-Regierung des Landes amtierte, ähnelt in seinem biografischen Profil anderen linken lateinamerikanischen Präsidenten: Lula, ein ehemaliger Metallarbeiter in Brasilien, Evo Morales, ein Aymara-Indígena in Bolivien, Michelle Bachelet, eine geschiedene, atheistische Kinderärztin in Chile, Fernando Lugo, ein Befreiungstheologe und ehemaliger Bischof in Paraguay, Rafael Correa, ein keynesianischer Ökonom in Ecuador. Das politische, soziale und professionelle Profil der Personen ist ebenso neu und differenziert wie das politische Spektrum der Parteien und Bewegungen in Lateinamerika heute. Auch die Uruguayer, die Eduardo Galeano, der bekannteste Schriftsteller des Landes, als »konservative Anarchisten« bezeichnet, werden sich an ihren neuen unkonventionellen Präsidenten noch gewöhnen müssen.
Wie schon sein ganzes Leben lang polarisiert der Mitbegründer der Stadtguerilla bis heute. Von der Rechten wird er »unverbesserlicher Kommunist« gescholten. Noch kurz vor der Stichwahl am 29. November versuchte man (erfolglos), ihn mit einem ausgehobenen Waffenarsenal in Verbindung zu bringen. Auf der anderen Seite kritisieren ihn ehemalige Mitstreiter aus den 60er und 70er Jahren für seinen politischen Schlingerkurs und sind von seiner Bilanz als Landwirtschaftsminister des amtierenden Präsidenten Tabaré Vázquez bitter enttäuscht. Während seiner Amtszeit wurden große Teile des fruchtbarsten Landes an multinationale Konzerne, vor allem aus Europa und Brasilien, verkauft, Kleinbauern und kleine Viehzüchter wurden verdrängt, die Konzentration des Reichtums hat sich verstärkt.
Vor allem für die armen Bevölkerungsschichten im 3,4 Millionen Einwohner zählenden Uruguay und für Teile der Mittelschicht verkörpert er jedoch die Perspektive einer besseren Zukunft. Der Lula-Bewunderer, der auch ein Freund von Hugo Chávez ist, kämpft vor allem darum, die Menschen zu verändern: »Wir können alles um uns herum verändern, die Gesundheit, die Erziehung, die Ernährung, die Unterhaltung, die Häuser … Wenn sich aber die Menschen nicht verändern, wenn die Werte die gleichen bleiben, bringt uns das alles nichts.« Mujica, der in den frühen 60er Jahren seine politische Arbeit in der konservativen Nationalpartei begann, danach Anarchist und Marxist war (wie er selbst sagt), bevor er 1969 als Führungsfigur der MLN-Tupamaros (Movimiento de Liberación Nacional) in den Untergrund ging, will heute von Ideologien nicht mehr viel wissen. »Der wichtigste Punkt muss für die Linke heute sein, den Menschen zu essen zu geben, die Bildung zu verbessern, obwohl man damit nicht das System verändert. Das Denken ist ein Luxus für das Volk«, sagte der zukünftige Präsident Mujica schon 2004, als er bei der Parlamentswahl 300 000 Stimmen erhielt, so viel wie kein anderer Politiker des Landes. Für diese Ziele ist er auch bereit, »Kröten zu schlucken«, wie er die Kompromisse nennt, die er machen musste.
Einen Spielfilm über »Pepe« Mujica gibt es noch nicht, wohl aber den Dokumentarfilm »Tupamaros« der Schweizer Filmemacherin Heidi Specogna von 1996. Der Film, der 1997 in Anwesenheit José Mujicas auf der Berlinale gezeigt wurde, erzählt in Interviews mit den überlebenden Anführern die Geschichte der uruguayischen Stadtguerilla nach. Die Organisation, die als bewaffnete Gruppe aus dem Untergrund agierte und die ihre Raub- und Entführungsaktionen vor allem gegen Unternehmer und korrupte Politiker richtete, erreichte durch die Verteilung der Beute in den Armenvierteln in Robin-Hood-Manier große Sympathie. Nach der Radikalisierung des bewaffneten Kampfes Anfang der 70er Jahre, als es sowohl auf Seiten der Guerilla als auch auf Seiten der Militärs und der Polizei Tote gab, wandten sich allerdings viele Uruguayer von ihnen ab. Ein Höhepunkt in »Tupamaros« ist der Auftritt Mujicas und Eleuterio Huidobros, ebenfalls ein Gründungsmitglied der Organisation. Beide schlendern durch das bekannteste ihrer vielen ehemaligen Gefängnisse, heute ein luxuriöses Shopping-Center. Sie amüsieren sich über die Zeit in ihren Zellen, in denen heute Parfüms und Telefone verkauft werden, und zeigen, wo der 1971 mit eigenen Händen gegrabene Tunnel lag, durch den 111 Häftlinge in die Freiheit entkamen.
In dem Film mokiert sich Mujica übrigens über Krawatten: »Im Norden mag dieses Kleidungsteil was bringen, aber bei uns?« Obwohl er heute auch schon mal rasiert und mit gebügeltem weißen Hemd auftritt, hat man eine Krawatte immer noch nicht an ihm gesehen. Da ist er sich treu geblieben. Und als Präsident will Pepe sein Gehalt von 5000 Euro an eine Stiftung überweisen. Zudem will er weiter auf seiner Chacra wohnen, einer Art innerstädtischem Kleinbauernhof. Dort züchtet er bis heute Blumen, die er und seine langjährige Kampf- und Lebensgefährtin, die heutige Senatorin Lucía Topolansky, noch bis vor kurzem auf dem Wochenmarkt verkauften.
Prognosen
Für Hugo Chávez ist die Botschaft klar: »Dieser Sieg der Linken in Uruguay festigt die große Welle der Veränderung, Würde und Souveränität, die unser Lateinamerika überrollt, und er führt dazu, dass die Macht des Volkes immer weniger rückgängig gemacht werden kann.« Nicht nur der venezolanische Präsident, auch der Brasilianer Lula da Silva, den José Mujica im Wahlkampf immer als sein Vorbild bezeichnet hatte, war unter den ersten Gratulanten. Zwischen diesen beiden Polen im Spektrum der Mitte-Links-Regierungen in Lateinamerika wird sich José Mujica, der am 1. März 2010 sein Amt antreten wird, wohl bewegen: innenpolitisch mehr Lula, außenpolitisch mehr Chávez.
Während die Sozialpolitik weiter ausgebaut werden wird und auch linke Kernforderungen wie ein höherer Bildungsetat, mehr Steuergerechtigkeit und die Unterstützung selbstverwalteter Betriebe an Bedeutung zunehmen werden, wird Mujicas Vizepräsident Danilo Astori, ein liberal orientierter Sozialdemokrat, in der Wirtschafts- und Finanzpolitik die Fäden ziehen. Insofern sind keine radikalen Umbrüche zu erwarten, sondern eine wachstumsorientierte Politik, die vor allem auf weitere milliardenschwere Investitionen multinationaler Konzerne wie in der Forstwirtschafts- und Zelluloseindustrie setzen wird. Der Beitrag für die Wertschöpfung im Lande und damit auch für die gesellschaftliche Umverteilung ist dabei gering. Den Bankenstandort Montevideo, der im Zuge der weltweiten Krise zeitweise auf die »schwarze Liste« der Industriestaaten rückte, wird Astori nicht antasten.
Außenpolitisch wird Mujica allerdings die Integrationsprozesse in Lateinamerika offensiver mitgestalten als sein Vorgänger Tabaré Vázquez. Und sicher werden unter Mujica auch mit Venezuela weitere Abkommen abgeschlossen. STH
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.