Die Leute anrühren oder aufrühren?
Nicolas Stemann inszenierte Brechts »Heilige Johanna der Schlachthöfe« am Deutschen Theater Berlin
Brechts »Heilige Johanna der Schlachthöfe« ist die traurige Geschichte der Heilsmarmistin, die im Fleischkrieg Chicagos, dem Ort der Börsenspekulationen und darbenden Proletarier, mit Gottesgläubigkeit Frieden stiften und den Fleischkönig Mauler bekehren will. Gott ist das eine Wort, Johanna sagt es, Klassenkampf das andere Wort, Brecht sagt es, und im Stück lernt Johanna, wie Brecht zu denken, der pur antikapitalistich denkt, und so wechselt Johanna von der Anrührung zum Aufruhr.
Nicolas Stemann inszenierte am Deutschen Theater Berlin und die Aufführung empfand ich so stark, dass die Lust am Theaterbeschreiben verging. Es gibt Kunst, da bist du schnell wieder draußen, also drin im akuten Lebensgefühl.
Stemann weiß, dass die Poesie der Generalstreiks, das Pathos der marxistischen Barrikaden Patina trägt. Aber er weiß auch, dass nichts farbloser ist als diese Generosität, sich von nichts mehr berühren zu lassen. Ein Künstler im Transit der Weltbilder. Verblasst das frühsozialistische Morgen-Rot, aber täglich droht das endbürgerliche Morgen-Grauen ...
Die Schauspieler (Andreas Döhler: komische Einfalt, Felix Goeser: aggressiver Schneid, Matthias Neukirch; melancholisch vergrübelt) sind galagekleidet. Eine Re-
clamheft-Leseprobe findet statt. Streit, wer welche Rolle spielt; Identität spielt keine Rolle im modernen freien Fall der Einzelnen ins große Netz. Eine Kamera projiziert kleine Wolkenkratzermodelle, Menschenmassen auf die Leinwand, ein Ticker vermeldet die Zahl der Toten, die alle drei Sekunden der Aufführung Hungers sterben auf der Welt. Revue. Show. Rumor des Unterhaltungsbetriebes. In den Seitenlogen schmissig galanter Live-Jazz.
Stemann spielt mit dem Stück. Das ist sein Bekenntnis zur Ohnmacht, »There ist no Alternative« leuchtet es auf der Leinwand. Kapitalismus for ever. Für immer? Das heißt: so weit unsere beschränkte Fantasie reicht. Aber die Inszenierung leidet auch an dieser Ohnmacht, an diesem ironischen Weltverhalten, Stemann ist ein Durchreisender im orientierungslosen Raum, er gesteht, dass es die Reise in einer Gespensterbahn ist.
Margit Bendokat als Proletarierin, mit Trainingsanzug. Obi- und Lidl-Beutel: Geländer und Schlagwaffe. In großartiger, aufgekratzt scharfer Sprachmonotonie: leidende Ausgebeutete, kernige Agitatorin, lederne Ideologin, da wird ein Herz gleichsam zum kalt keifenden Parteiorgan. Der rote Stern leuchtet flammend, im nächsten Moment wirkt er nur noch wie ein Weihnachtsstern ...
Der Regisseur lässt am Schluss ein Lied auf den ganzen Menschen singen – einzig der entzweite Mensch sei dieser ganze Mensch. Der die Dinge nicht in einen einzigen Standpunkt bekommt, den die Zustände zerreißen. Der Ja und Nein zugleich sagen will, der sich mit nichts gemein machen möchte, aber von Gemeinschaft träumt. Dem gegen das Geschichtsbewusstsein noch ein Geschichtsunterbewusstsein hämmert, und es hämmert: Auch Wohlstandssicherung ist asozial. Man möchte zum Pflasterstein greifen, weiß aber, dass es sinnlos ist. Böse. Verbrecherisch. Und unterm Pflasterstein liegt nicht mehr das Meer, nur Brechts Grab.
Es ist zum Wahnsinnigwerden. Johanna wird wahnsinnig. Katharina Marie Schubert spielt dieses Mädchen zunächst mit kecker Frage- und selbstgewisser Einmisch-Pose, als sei Gott der Herausgeber eines neugierigen Boulevardblatts. Bis sie dann im Schnee stirbt, der keiner von gestern ist; sie geht zugrunde an jener Alternativlosigkeit, die wir zur letzten Kultur erhoben. Aber als Tote aufersteht sie immer wieder, und aus dem kessen, frechen Mädchen ist nun eine weibliche Wildnis geworden, die unheilige Ulrike des Klassenkampfes. Vom Schlachthof zur Meinhof.
Noch einmal tritt jetzt Margit Bendokat auf, ein militant vergreister Kommunismus stolpert da über die Bühne. Lächerlich, abgewrackt, der Geist von gestern als Lemure. Aber im Moment, da man meint, Stemann liefere die gesamte Arbeiterbewegung dem Spott aus, wird Bendokats Kommunistin von hinten erschossen. Lache jetzt, wer noch lachen kann. Natürlich lachen immer welche. Aber plötzlich, mit diesem MG-Geräuschtrommelwirbel, erzählt die Aufführung vom Blut, dass fließt, wenn's wirklich an die Grundfeste der Welt geht: Herrschaft.
Im Programmheft der Satz: »Nach sechzig Jahren Sozialer Marktwirtschaft in Deutschland scheint es 2009 legitim, mit Brechts ›Johanna‹ im Hinterkopf zu fragen: Warum wollen WIR keine Gewalt?« Es gibt gute Gründe und feige Gründe. WIR. Die wohlanständigen Wegseher, redlichen Ich-Interessler, diskursfiebrigen Sprachlosen.
Johanna ist inzwischen wieder die schöne Mondäne des Anfangs geworden. Auferstanden von den Toten, die uns kaum noch mahnen. Rückkehr der Aufführung ins Spiel. Ins Augenzwinkern. In den lässigen Zynismus, der ein Spiegel ist, in den wir schauen müssen. Dieser Blickzwang macht die Aufführung zum Bedrängnis.
Übrigens: Als Bendokats Arbeiterfrau erschossen wurde, entfuhr unserer schicken Johanna ein zartes »Huch!« Weltehrlicher geht es nicht.
Nächste Vorstellung: 21.12.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.