Pharmafirmen fürchten Transparenz
Experten fordern Veröffentlichungspflicht von Arzneimittelstudien
Das Medikament war nicht lange auf dem Markt, aber es avancierte rasch zum Verkaufsschlager. Das 1999 eingeführte Schmerzmittel Vioxx bescherte dem Hersteller Merck Umsätze in Milliardenhöhe. Im Jahr 2004 nahm der Konzern das Präparat vom Markt, weil es die Herzinfarktgefahr steigerte. Allein in Deutschland, so schätzt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), seien rund 7000 Menschen durch Einnahme von Vioxx erkrankt oder verstorben.
Das Risiko hätte offenbar schon viel früher erkannt werden können. Wie US-Mediziner im Fachblatt »Archives of Internal Medicine« schreiben, deuteten Studiendaten schon Ende 2000 auf das Risiko hin. Das Problem: Große Teile der Unterlagen waren nicht öffentlich einsehbar. Zugänglich wurden sie erst durch US-Gerichte im Rahmen von Schadenersatzklagen.
Das Beispiel unterstreicht ein seit Jahrzehnten bekanntes Problem. Ärzte und Patienten erhalten auf Basis der publizierten Berichte zwangsläufig ein geschöntes Bild. Daher fordern Mediziner schon seit den 1970er Jahren eine Pflicht für die Hersteller, ihre Studienresultate öffentlich zugänglich zu machen. Jahrelang verhallte dieser Ruf ohne Resonanz. Bewegung kam erst auf, als sämtliche großen medizinischen Fachzeitschriften im Jahr 2004 ankündigten, nur noch jene Studien zu veröffentlichen, die schon zu Beginn registriert wurden. Und seit dem Jahr 2008 müssen Hersteller in den USA die Resultate ihrer Untersuchungen veröffentlichen.
In Europa lässt eine solche Regelung auf sich warten. Bislang vertraut die EU auf die freiwillige Kooperation der Hersteller. Dies reiche nicht aus, bemängelt Arzneimittelkoordinatorin Beate Wieseler vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. »Mit der Selbstverpflichtung der Firmen haben wir schlechte Erfahrungen gemacht«, sagt sie. »Bei jeder Arzneimittelbewertung bitten wir die Hersteller um alle Daten für eine Substanz. Die vollständigen Unterlagen bekommen wir nur in 60 Prozent der Fälle.« Daher fordert Institutschef Peter Sawicki eine Pflicht zur Veröffentlichung aller Ergebnisse. »In den USA ist diese Verpflichtung seit 2008 gesetzlich umgesetzt«, sagt er. »Wir brauchen schnellstmöglich eine vergleichbar konkrete und transparente Umsetzung für Europa.« Die Verpflichtung müsse rückwirkend auch für bereits zugelassene Medikamente gelten.
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft unterstützt das Anliegen. »Wir teilen die Forderung des IQWiG uneingeschränkt«, sagt der Vorsitzende Wolf-Dieter Ludwig. »Ärzte kennen nur die publizierten Daten, aber nicht jene, die in der Schublade liegen. Wer ungünstige Daten nicht veröffentlicht, schadet den Patienten, der Allgemeinheit und langfristig dem Gesundheitssystem, weil möglicherweise teure Arzneien unnütz verordnet werden.«
Kürzlich sorgte ein Vorfall bundesweit für Aufsehen. Als das IQWiG verschiedene Antidepressiva unter die Lupe nehmen wollte, stellte der Konzern Pfizer zum Wirkstoff Reboxetin zunächst nur den Teil seiner Unterlagen zur Verfügung, der ein positives Bild ergab. Die Prüfer argwöhnten aber, es gebe noch weitere Unterlagen. »In mühevoller detektivischer Kleinarbeit trugen wir Spuren zusammen, um uns ein vollständiges Bild zu machen«, sagt Beate Wieseler. Das Endergebnis: Die publizierte Literatur legte einen Nutzen von Reboxetin nahe, der sich laut Wieseler in der Gesamtschau aller Daten nicht mehr fand.
Jüngstes Beispiel ist das Grippemittel Tamiflu, dessen Umsatz für 2009 auf 1,8 Milliarden Euro geschätzt wird. Forscher, die den Nutzen des Mittels prüfen wollten, kritisierten einen Mangel an zugänglichen Daten. »Weltweit haben Regierungen Milliarden für ein Medikament ausgegeben, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft nun nicht beurteilen kann«, betont Fiona Godlee, Chefredakteurin des »British Medical Journal«.
Ludwig wertet das Zurückhalten missliebiger Daten als Zeichen für einen grundsätzlichen Interessenkonflikt der Pharmaindustrie: »Die Hersteller haben nicht nur Interesse an guten Medikamenten, sondern auch daran, hohe Umsätze zu erzielen«, sagt Ludwig. »Deshalb fürchten sie die Transparenz.«
Studien mit erwünschten Resultaten
Publizieren Wissenschaftler bevorzugt Studien mit erwünschten Resultaten, entsteht ein verzerrtes Bild von den Medikamenten. Das Ausmaß dieser Schieflage – in der Fachwelt »Publication Bias« genannt – wird in einer US-Studie deutlich. Darin analysierten US-Forscher aus Portland 74 Untersuchungen zu zwölf Antidepressiva, die bei der US-Zulassungsbehörde FDA registriert waren. Ob eine Studie später publiziert wurde, hing hauptsächlich vom Resultat ab. Von den 38 Untersuchungen, die dem jeweiligen Wirkstoff eine positive Wirkung attestierten, wurden 37 publiziert. Nur drei von 36 Studien, die negative Ergebnisse lieferten, wurden öffentlich. 22 Studien wurden nicht veröffentlicht, bei den übrigen elf wurden die Resultate nach Ansicht der Forscher geschönt. Die Publikationen vermittelten den Eindruck, als seien 94 Prozent der Studien positiv verlaufen. Tatsächlich waren es lediglich 51 Prozent. wwi
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