Neue Schule, alte Hierarchien

Bei der Hamburger Bildungsreform könnten die Schulsozialarbeiter das Nachsehen haben

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Der erste Schritt der Hamburger Schulreform ist die Umstellung auf den Ganztagsbetrieb. Im zweiten Schritt werden mit dem kommenden Schuljahr die Primarschule und die Stadtteilschule eingeführt. Mit dieser Reform werden alte Hierarchien angegriffen, manche aber auch bestätigt. LENA TIETGEN sprach über Auswirkungen mit der Sozialpädagogin BERNADETTE H.*, die seit zwölf Jahren in einer integrierten Hamburger Gesamtschule tätig ist.

ND: Die Schulstrukturreform sieht Großes vor. Wird demnächst noch ein Stein auf dem anderen stehen, wenn Sie morgens in die Schule kommen?
BERNADETTE H.*: Was das Ganze bedeutet, kann ich momentan noch nicht richtig einschätzen, zumal bei uns die Jahrgänge 5 und 6 wegfallen.

Heißt dies, Sie haben mit Schülereinbußen zu rechnen?
Ja, die jüngeren Schüler werden fehlen, wobei nach den letzten Planungen die Jahrgänge 5 und 6 den Standort bei uns behalten sollen. Das bedeutet, dass Räumlichkeiten der Primarschule zur Verfügung gestellt werden und dass Kollegen an die Primarschule wechseln. Diese Umbruchsituation macht momentan ziemlich viel Unruhe. Insgesamt gibt es zu viele Unwägbarkeiten: die Umstellung auf die Ganztagsschule, die noch sehr holperig läuft, die kommende Stadtteilschule sowie der Aufbau der gymnasialen Oberstufe, die vor dem Hintergrund der Stadtteilschule wichtig wird.

Warum bringt die Umstellung auf die Oberstufe Unruhe?
Wir bekommen zunehmend neue Gymnasiallehrer als Kollegen, um sie in der Oberstufe einzusetzen. Dadurch verschiebt sich das Gleichgewicht der verschiedenen Professionen.

Welche Folgen hat das für Sie als Sozialpädagogin?
Bisher begleite ich die Integrations-Kinder (I-Kinder) von der 5. bis zur 10. Klasse durchgängig. Mit der Umstellung auf die Primarschule reduziert sich der Umfang auf die Klassenstufen 7-10. Ich befürchte, wenn wir den Fokus mehr auf leistungsstarke Schüler lenken, werden die schwächeren Schülern vernachlässigt. Meine Profession wird nicht mehr so den Stellenwert haben.

Sehen Sie einen Stellenabbau in Ihrem Berufsstand auf sich zukommen?
Mein Job wird ganz sicherlich nicht überflüssig. Aber vieles ist in der Diskussion. Bisher arbeitete ich mit den I-Kindern in meiner Klasse am Vormittag. Nachmittags, wenn der Klassenverband wegfällt, muss sich die Gestaltung des Unterrichts durch die Ganztagsangebote noch zeigen. Das Problem ist, wir müssen gewährleisten, dass die I-Kinder eine Begleitung haben. Das beißt sich wiederum mit den nachmittäglichen Terminen und Konferenzen, an denen wir bisher auch als Sozialpädagogen teilnehmen. Nun wurden Stimmen laut, nach denen wir an den Konferenzen nicht mehr teilnehmen sollten. Das darf auf keinen Fall eintreten, da wir Teil des Kollegiums sind und dieser Umstand uns ausgrenzen würde.

Das klingt nach alten Hierarchien.
Ich empfinde die Hierarchie immer noch als stark ausgeprägt. Die zeigt sich in den verschiedenen Ausbildungsgraden von Grund- und Mittelstufenlehrern, Gymnasiallehrern und Sozialpädagogen und in der unterschiedlichen Entlohnung. In gewissen Zeiten drückt das auf die Stimmung, denn man macht die gleiche Arbeit für unterschiedliches Geld und Anerkennung. Allein der Gedanke, uns als Sozialpädagogen aus den Konferenzen herauszunehmen zeigt unseren Stellenwert. Zudem werden wir vorerst als sogenannte »Lückenfüller« in den zusätzlichen Lernzeiten eingesetzt.

Ist damit keine Aufwertung der Sozialpädagogen verbunden?
Das sieht natürlich jeder anders. Wir haben Kollegen in den Integrationsklassen, für deren Selbstverständnis es wichtig ist, sich mehr einzubringen und selbstständig eine Gruppe zu leiten. Das finde ich in Ordnung, sehe aber darin keine Aufwertung. Wir übernehmen zum Teil Aufgaben, die ein Lehrer zu machen hätte. Einen Schüler in Stunden zu schicken, in denen er vertiefen und lernen soll, sind von der Profession her Lehrerstunden – auch wenn dies die Zeiten sind, in den früher Hausarbeiten gemacht wurden. Wir waren halt da und hatten Zeitkapazitäten. Meine Hoffnung ist: Je mehr Sozialpädagogen eingestellt werden desto mehr verflachen die Hierarchien. Wir bekommen dann eine Lobby.

Und wie sehen dies die Lehrer?
Unterschiedlich. Einige finden den erweiterten Blick auf die Schüler sehr hilfreich, andere sagen, sie kommen alleine besser klar. In der Oberstufe sind wir sowieso nicht vorgesehen, daher ist es für die Gymnasiallehrer nicht von Interesse. Dabei wären auch dort Sozialpädagogen hilfreich. Die Schüler sind doch nicht aufgrund der Versetzung in die 11. Klasse anders.

Wie setzt sich Ihre Schülerschaft zusammen ?
Unsere jetzigen Fünftklässler haben schätzungsweise zu 30 Prozent einen Migrationshintergrund, dann haben wir einen größeren Teil Kinder aus sozial benachteiligten Familien und einen kleineren Teil, der einen besser situierten und bildungsaffinen Hintergrund hat.

Mit welchen Problemen werden Sie konfrontiert ?
Auch bei meiner jetzigen fünften Klasse stelle ich fest, wie viele Kinder unselbstständig sind. Das betrifft das Lernen, die Selbstorganisation, die Schreibkenntnisse und das Leseverständnis. Zudem ist die Leistungsspanne enorm groß. Problematisch wird es, wenn wir die Vorgaben der Schulbehörde, den Unterricht immer mehr zu individualisieren, also beim Kind anzusetzen, umsetzen wollen. Die Kinder tun sich schwer, aktiv zu werden.

Aber Ihre Aufgabe ist es doch, Kinder zu motivieren.
In der Integrations-Klasse haben wir schon immer individueller gearbeitet. Als Dreierteam aus Klassenlehrer, Sonderschulpädagoge und Sozialpädagoge sind wir für alle in der Klasse zuständig und bieten oft dem einen oder anderen speziellere Aufgaben an. Was noch nicht gut gelingt, ist die Öffnung für das individualisierte Lernen aller. Bisher sind in drei Klassen Lernbüros eingerichtet, in denen die Kinder anhand von Kompetenzplänen ihre Arbeit freier einteilen. Hier üben wir mit den Kindern kleinschrittig das selbstständige Arbeiten und Präsentieren. Ich wünsche mir, dass diese Entwicklung auf die gesamte Schule übergreift, dass alle mitziehen und überzeugt sind, dass es ein gutes Konzept ist. Ich habe allerdings manchmal den Eindruck, dass es Schüler gibt, die uns aus dem Blick rutschen. Vor allem, wenn der Lehrer alleine dasteht, wie das in den anderen Klassen der Fall ist.

´Ja, aber das reicht nicht. Mit Beginn der Ganztagsschule haben wir zwar Honorarkräfte und fest angestellte Lehrer bekommen, doch sehe ich derzeit nicht, dass dies mehr Lehrerstunden für die einzelnen Klassen bedeutet, sondern eher, dass die Stunden abgedeckt werden, die die Schüler länger in der Schule sind. Hier ist noch viel Nachbesserungsbedarf, um die zusätzlichen Lehrerstunden sinnvoll einzusetzen. Von Vorteil ist, dass wir endlich einmal wieder jüngere Kollegen bekommen und dass mehr Sozialpädagogen eingestellt werden.

* Name geändert

Neue Schulstruktur: Ab August 2010 gibt es in Hamburg nur noch drei allgemeinbildende Schulformen: die Primarschule, die Stadtteilschule und das sechsstufige Gymnasium. Kern der Reform ist die Verlängerung der Grundschulzeit. Diese soll künftig sechs statt wie bislang vier Jahre dauern. Der Erfolg dieses Vorhabens ist durch das erfolgreiche Volksbegehren Ende 2009 jedoch zweifelhaft. Eine Initiative hat die nötigen Stimmen für einen Volksentscheid im Sommer dieses Jahres gesammelt. ND

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