Wir simulieren nur

Dieter Wellershoff blickt in einen leeren Himmel

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 4 Min.

Er geht aufs Ganze – immer schon. In Romanen, Novellen und Erzählungen, in Hörspielen und Fernsehfilmen, nicht zuletzt in klugen Aufsätzen und Essays hat sich der Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff mit den existenziellen Problemen des modernen Menschen beschäftigt. Selbst tief geprägt von Kriegserfahrungen und einem geschenkten Neubeginn samt notwendiger Neuorientierung, rückt er das Thema Kontingenz – Schock oder Befreiung, wie sich Wellershoff im Bezug auf systemtheoretische Überlegungen Niklas Luhmanns fragt – in den Mittelpunkt schriftstellerischer Arbeiten.

Dabei versteht er seine realistischen Texte als »Simulationsräume« und »Probebühne« für das wirkliche Leben, denn in all diesen Büchern, zuletzt etwa im (erfolgreich verfilmten) Roman »Der Liebeswunsch« (2000) oder im Erzählband »Das normale Leben« (2005), geht es um Menschen in krisenhaften Situationen, in denen sich Alltägliches zuspitzt. Oft gibt es Abstürze bei Wellershoff, nehmen sich die Protagonisten das Leben, gefährden sich und andere oder verlaufen sich im Dunkel unaufgeklärter Alltäglichkeit.

Im Mittelpunkt des neuen Romans steht ein junger evangelischen Pfarrer, Ralf Henrichsen, der nachts zu einem Verkehrsunfall mit tragischem Ausgang gerufen wird. Er soll einem Fahrer seelsorgerischen Beistand leisten, dessen Wagen unter ungeklärten Umständen von der Straße abgekommen und in einen Baggersee gefahren war. Die Frau des Fahrers ist ums Leben gekommen, ihr gemeinsames Kind überlebt – mit schwersten Schäden. Völlig apathisch reagiert der Mann.

Vor diesem Hintergrund entwickelt Wellershoff einen Erzähltext, dessen Dramaturgie neben den äußeren Geschehnissen und den in der Gemeinde fortan grassierenden Diskussionen wie Verdächtigungen – hat dieser Karbe möglicherweise seine Frau aus Eifersucht oder anderen Motiven umgebracht? – vor allem um die Entwicklung des jungen Pfarrers kreist. Durch das dramatische Ereignis muss sich Henrichsen einmal mehr fragen, wie es um seinen eigenen Glauben bestellt ist, ja um Glaubensfragen insgesamt, ob er als Priester und Seelsorger wirklich Trost zu geben vermag. Hart packen ihn grundsätzliche Zweifel an, plagen ihn Ängste und Nöte, die er in Gesprächen mit Freunden und Kollegen, intensiv dann auf einer Tagung diskutiert: Plötzlich, so gesteht er einem Kollegen, habe er denken müssen, dass alles, was in der Bibel steht und woran er immer geglaubt hat, nicht mehr gültig sei. »Weder die Erschaffung von Himmel und Erde durch Gott noch seine eigene Existenz. Und auch nicht die Auferstehung Christi, seine Himmelfahrt und seine Wiederkehr beim Jüngsten Gericht. Nichts war mehr da.«

Sind es also nur Fiktionen, die er den Menschen erzählt? Gerade die seiner Meinung nach krampfhaften, zuweilen geradezu grotesk-lächerlichen Versuche der Amtskirche, den Glauben durch populäre Aktionen den Leuten wieder näherzubringen und schmackhaft zu machen, bestärken ihn in seinem Zweifel. »Uns fehlen die Worte und die Wahrheiten und der Glaube. Wir simulieren nur.«

Daneben gibt es noch eine andere Geschichte. Im Subtext des Romans scheint eine Nebenhandlung auf: Sie erzählt von einer gekränkten und enttäuschten 50-jährigen Frau, die von dem jungen Priester fasziniert ist, ihm Briefe schreibt und ihn endlich zu einem Kennenlern-Besuch einlädt. Henrichsen, dem die Frau aufgefallen ist in einem Moment seiner Predigt, »der sie beide, so fremd wie sie einander waren, für Sekunden zu einer Einheit verschmolzen hatte«, lässt sich auf das Angebot ein, riskiert das Abenteuer und wird mit der Geschichte einer Frau konfrontiert, die das Leben im goldenen Käfig aufgegeben hat und nach neuer Orientierung sucht. Wobei sie tief in ihren Zwängen verfangen ist, wie Henrichsen am Ende einer langen Nacht glaubt festgestellt zu haben. Darin ähnelt sie ihm, und das, so motiviert er sein überstürztes Weggehen von der noch schlafenden Frau, ist ihm einfach zu viel.

Er kehrt zurück in seinen Alltag, erfährt, dass sich Karbe, jener Fahrer, das Leben genommen hat, und fühlt sich nun endgültig »vollkommen leer«. »Alles war, wie es war. Zu ändern war nichts.« Irgendwie macht er weiter, kompensiert die innere Leere durch äußere Betriebsamkeit im Amt. Bisweilen »hatte er das Gefühl, dass er mit allem, was er tat, einen Schutzwall gegen eine ständig drohende Formlosigkeit und einen schleichenden Verfall zu errichten versuchte.«

Dieter Wellershoff: Der Himmel ist kein Ort. Roman. Kiepenheuer und Witsch. 304 S., geb., 19,95 €.

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