- Kultur
- Berlinale 2010
Die Nenzin Neko und ihre Treue zur Tundra
Jugendfilm: Sibirische Nomadin, Lenins Diktat, Flucht zurück ins Eis
Glitzernder Schnee bis zum Horizont. Inmitten dieser Schneewüste ein Mädchen, eingewickelt in einen dicken Pelzmantel, darum ein kunstvoll gewebter Gürtel geschlungen, Pelzstiefel und ein geblümtes Tuch um den Kopf. Es hat uns den Rücken zugekehrt, breitet die Arme aus, als wollte es vor Glück die ganze Welt umarmen.
Schnitt. Eine Ebene, kaum Vegetation, ein kleines Lagerfeuer. Das Mädchen besucht mit einem alten Mann eine Heiligenstätte. Sie füttern die Holzstatuen mit Brei, setzen sich dazu und lassen's sich auch schmecken.
Schnitt. Zwei Tipis, einsam in der kargen Landschaft. Wir befinden uns auf der Halbinsel Jamal im Nordwesten Sibiriens. Dort, in der unwirtlichen Tundra, lebt das Naturvolk der Nenzen. Sie sind Nomaden, ernähren sich vom Fischfang, von der Jagd und der Rentierzucht.
Schnitt. Eine Frau mittleren Alters sitzt in der Küche ihres bescheidenen Holzhauses. Durch das Fenster fällt der Blick auf die Dorfstraße. Lange schweigt sie. Dann stellt sie sich vor: »Ich bin Ambasi Veras Tochter. Mein russischer Name ist Nadezhda Ambasievna. Mein wirklicher Name ist Neko. Ich bin die Letzte von Veras Familie.« Und sie erzählt ihre Geschichte, wie sie als Kind in der damaligen Sowjetunion aus ihrer Familie gerissen, »russifiziert« wurde.
»Die Letzte ihrer Familie« heißt der mit dokumentarischen Mitteln arbeitende Spielfilm von Anastasia Lapsui und Markku Lehmuskallio, der heute seine Weltpremiere feiert. Anastasia Lapsui, selbst dem Volk der Nenzen zugehörig, und der Altmeister des finnischen Films, Markku Lehmuskallio, haben sich in ihren Arbeiten immer wieder den Ureinwohnern in den arktischen Gebieten zugewandt. In ihrer neuen Produktion spielen ausschließlich Laiendarsteller aus der Region, Neko und ihre Familie werden von Nenzen verkörpert. Die Rolle der erwachsenen Neko spielt die Lehrerin Nadezhda Pyrerko. Ihr Schicksal ist zugleich die Geschichte des Films.
Neko lebt mit ihrem Vater und der Großmutter in der sibirischen Tundra zwischen den Flüssen Tas und Pur. Sie ist ein Einzelkind. Die Mutter arbeitet als Verkäuferin in einem Dorf weitab. Von der Großmutter wird Neko liebevoll umsorgt, manchmal schlägt sie die Trommel und singt ihrer Enkelin Schamanenlieder vor. Um die Ernährung kümmert sich der Vater. Dass Neko eine Analpabetin ist, hat sie noch nie gestört. Schließlich muss sie andere Dinge lernen, um durchs Leben zu kommen.
Doch dann steht eines Tages die Mutter in Begleitung einer russischen Lehrerin und des Direktors eines Internats vor ihrem Tipi. Neko soll zur Schule gehen, Russisch lernen und ein guter Pionier werden. Das ist Pflicht in der Sowjetunion, auch in dieser Region. Vater und Großmutter können nichts dagegen machen, Neko muss mit in das Internat, das viele Kilometer von ihrem Zuhause entfernt ist. Neko bekommt den Namen Nadezhda und muss von nun an Russisch sprechen. Sie darf nicht mehr auf dem Fußboden sitzen, muss Brei anstatt Fisch essen, muss sich jeden Tag waschen und darf nicht mit ihrer Kleidung ins Bett. Zum ersten Mal in ihrem Leben zieht Neko ein Nachthemd an. Über der Tafel prangt Lenins Spruch: »Lernen, lernen, nochmals lernen!« Das soll sich Neko nun zu Herzen nehmen, obwohl sie kaum ein Wort der fremden Sprache versteht. Als endlich die Ferien beginnen, wird Neko gezwungen, im Internat zu bleiben und Nachhilfeunterricht zu nehmen. Neko rebelliert und macht sich heimlich mit ihrem nenzischen Freund Parasi auf den Weg nach Hause ...
Dieser berührende Film ist von großer Aktualität. Heute leben in Sibirien noch 41 000 Nenzen. Die meisten von ihnen sind sesshaft geworden. Die wenigen Nomaden werden nun zwar nicht mehr per »Dekret« in die russische Gesellschaft eingegliedert und dabei ihrer ursprünglichen Lebensformen beraubt, stattdessen aber durch die Gesetze, die von der Gas- und Erdölindustrie vorgegeben werden.
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