I come from Germany
Karl-Heinz Wernicke und die Sirenen der Sehnsucht
Vor zwanzig Jahren war der Ostberliner Karl-Heinz Wernicke achtundvierzig, ein Mann im besten Alter. Wenn er zurückblickte, war er nicht unzufrieden: Als Ingenieur für Heizungs-, Lüftungs- und Sanitäranlagen hatte er in einem »tollen Kollektiv« gearbeitet, von Jugendbeinen an Sport getrieben – zuerst geturnt, dann Gewichte gehoben, denen er einen Bizeps verdankte, dem Frauen kaum widerstehen konnten. Und er war ziemlich weit gereist. Polen, Ungarn, Sowjetunion, Bulgarien, Tschechoslowakei. Zugegeben, nur Ostblockstaaten. Doch allesamt gut für ein Abenteuer: Jugendtourist, Jugendherbergen, überall hübsche Mädchen am Start, gelegentlich war es zum Finale gekommen. Wernicke hatte nichts vermisst. Doch nun: die neuen Möglichkeiten!
Er kann nicht sagen, was genau den Schalter in seinem Kopf umlegte. Er hatte vom Gewichtheben zu einem Fußballverein gewechselt. Die DDR und das »tolle Kollektiv« hatten ihr Leben ausgehaucht, man foulte mit den Ellenbogen. Jedenfalls hörte Wernicke plötzlich wieder die Sirenen. Die Sirenen der Spreedampfer, die er zum ersten Mal als Knirps in der Christburger Straße vernommen hatte. In Berlin, noch fuhren kaum Autos, sei es damals still gewesen. So still, dass ihm noch im Prenzlauer Berg die Rufe der Dampfer ins Ohr drangen. Lockrufe seien das gewesen, Sirenen der Sehnsucht, die ihn entführten. Weit in die Ferne, überall dorthin, wo sein Vater gewesen war. Der hatte als Militärmusiker auf der »Admiral Graf Spee« den Kameraden den Marsch geblasen. Bekanntlich war das Panzerschiff 1939 vor Uruguay auf Befehl des Kapitäns von der Besatzung versenkt worden. Wernicke senior hatte zuvor die Erlaubnis erhalten, von Bord zu gehen, kurz, er war davongekommen. Trompete und Posaune konnte er allerdings nie wieder spielen – Skorbut: Die Zähne waren ihm ausgefallen. Später hat er dann gebratscht, zuerst im RIAS-Tanzorchester, danach an der Komischen Oper. Ein »normales« Nachkriegsleben. So normal wie das von Karl-Heinz, bis der wieder die Sirenen hörte. Karl-Heinz Wernicke fuhr nach Hamburg, zum Hafen. Das waren keine Spreedampfer, keine Nussschalen, die dort in See stachen. Gut, möglich, dass es dort geschah, dass Karl-Heinz Wernicke sich schwor: »Solltest du die siebzig erreichen, dann hast du siebzig Länder bereist!« Heute ist Wernicke achtundsechzig und war in achtundsechzig Ländern – Polen, Ungarn, Sowjetunion, Bulgarien und Tschechoslowakai mitgerechnet.
Vor ein paar Tagen ist Wernicke aus Dubai zurückgekehrt. Er kehrt immer zurück, kein Land der Welt hat je den Wunsch in ihm geweckt, Anker zu werfen, dort zu bleiben. Das liegt an Margit, seiner Lebensgefährtin. »Ich hatte das Glück«, sagt er, »eine Frau zu finden, die mich so nimmt, wie ich bin.« Das heißt, dass sie ihn ziehen lässt. Wernicke reist stets allein. Und stets reist er mit leichtem Gepäck: seinem Bergzelt, ein paar Brocken Englisch, Gastgeschenken wie Luftballons und T-Shirts seines Fußballvereins, nur mit ein paar Scheinen Bargeld. Die Kreditkarte lässt er zu Hause. So kommt er nicht in die Versuchung, sein Budget zu überziehen – ist die Barschaft aufgebraucht, muss er wieder Richtung Heimat. Wernicke ist kein reicher Mann. Zwar kennt man ihn in den Reisebüros rund um die Schönhauser Allee, zwar fleddert er dort die Prospekte, informiert sich über Pauschalreisen, aber nur als Routenscout: »Die haben die attracktivsten Strecken, mit den meisten Sehenswürdigkeiten.« Leisten kann er sich die Reisen nicht, nur die Hin- und Rückflüge. Auch das nur, weil er sparsam lebt: kein Alkohol, keine Zigaretten. Vor Ort macht er sich dann auf die Socken, mietet ein Fahrrad, nimmt Bus oder Bahn, übernachtet wie früher in Jugendherbergen, an Stränden, in Camps, auf Parkbänken. Eine Frau würde das nicht mitmachen, auch nicht eine Frau wie Margit. Die weiß, dass die schönen Töchter der Welt immer noch am Start stehen. Doch sie weiß auch, dass ihr Heinz mit keiner mehr über die Ziellinie will.
Dubai. Wernicke gibt es nicht gern zu: Er hat zwei Mal hinfliegen müssen. Schon beim ersten Mal, im November, wollte er auf den Burj Dubai steigen, das neue höchste Gebäude der Welt. Leider befand sich der Wahnsinnsbau damals noch in der Endfertigung, Touristen durften nicht hinauf. Er ist dann zunächst zum Jumeira spaziert, jenem berühmten Luxushotel, das wie ein geblähtes Segel aussieht, um ein Foto davon zu schießen. Die Nacht begann hereinzubrechen, plötzlich hatte er das Gefühl, keinen Schritt mehr weiter zu können, er brauchte eine Mütze Schlaf. Nun hat Wernicke ein Prinzip: Nie, niemals nimmt er sich ein Hotelzimmer. Da stand er nun mit seinem Rucksack. Um ein wenig Eindruck zu schinden, schob er sich die Brille keck aufs Haupt und spazierte, als sei er ein Gast des Hauses, an der Rezeption vorbei hinaus in den Poolbereich. Dort warteten sie schon auf ihn, die Liegen, er brauchte sich nur eine auszusuchen. Er hat himmlisch geschlummert in dieser Nacht. Bis früh um vier die Sprinkleranlage anging. Klatschnass ist er aufgesprungen. Als er das Hotel verließ, wollte man ihm ein Taxi rufen. »Nix Taxi«, hat er da gesagt: Das fehlte noch, dafür Geld auszugeben.
Solche Geschichten sind es, die er erzählt, wenn er wieder in Berlin ist. Oder auch Geschichten wie diese:
Von Dubai aus wollte Wernicke noch hinüber nach Oman. Die Flüge müssen sich rentieren, weshalb Wernicke seine Touren in der Regel auf drei bis vier Wochen ausdehnt. Er nahm also den Bus bis zur Grenze. »I come from Germany«, sagte er dort, viel mehr Englisch kann er nicht. Heute bedauert er, dass er sich früher in der Schule nicht mehr dahintergeklemmt hat. Doch in Erdkunde war er Spitze: Er kann alle Länder der Erde aufzählen, hundertdreiundneunzig sind es, und auch deren Hauptstädte. »Can you help me?«, fragte er – der zweite Satz, den er in Englisch draufhat. Und: »Ich möchte weiter nach Maskat.« Maskat ist die Hauptstadt des Sultanats auf der Arabischen Halbinsel. Bis Maskat dreihundertfünfzig Kilometer. Und ab der Grenze fuhr kein Bus mehr! Ein Omani nahm ihn im Mercedes mit, »ein Moslem im weißen Gewand, mit einem weißen Tuch auf dem Kopf, das hält bei denen so ein Ring fest«. Klar ist Wernicke leichtsinnig, bei einem Wildfremden einzusteigen, was hätte nicht alles passieren können. Aber es ist ja nichts passiert. Nur dass sein Chauffeuer ständig anhielt, ausstieg, um am Straßenrand sein Gebet zu Allah zu schicken. So lernt Wernicke Land und Leute kennen. In Maskat hatte er erneut eine glückliche Begegnung: Drei weißgewandete Muslime, die sich zum Angeln getroffen hatten, waren in heller Aufregung – ein Handy war ins Wasser gefallen. Da sie in der Öffentlichkeit ihre Gewänder nicht ablegen dürfen, hat Wernicke sich angeboten, das Handy herauszuholen. Zum Dank hat ihn einer der Männer ins Haus seines Vaters mitgenommen, wo er sich, in einer großen Halle, ein paar Stunden aufs Ohr hauen durfte. So ist seine Novemberreise doch noch ein Erfolg geworden.
Nur auf dem Burj Dubai war er nicht. Er stand auf den höchsten Gebäuden der Welt: auf dem Taipei 101 in Taipeh, dem Empire State Building in New York, den Petronas Towers in Kuala Lumpur und dem Sears Tower in Chicago. Jetzt sollte ihm der neue Rekordbau einfach so durch die Lappen gehen? So flog er im Januar nochmals hin. Dieses Mal hat es geklappt: Er stand auf der Aussichtsplattform des Superlativs der Superlative, des soeben eröffneten Burj Chalifa. Was hat Wernicke davon? Er sagt: »Ich bin dort gewesen.«
Im Übrigen, meint Wernicke, führe Dubai nicht seine Hitliste an: viele Hochhäuser, Baustellen, kaum Bäume. Er hat schönere Flecken gesehe: Der Grand Canyon am Colorado River im Südwesten der USA hat ihm fast den Atem genommen, der Lake Louise in Kanada war »mit das Himmlischste«, was er je sah: blau-grün schimmernd, im Hintergrund Gletscher.
Durch die USA und Kanada ist Wernicke schon mehrfach getourt. Erst letztes Jahr war er auf Hawaii, und selbstverständlich, dort gibt es Bier; er persönlich zieht Mineralwasser vor. Von Hawaii flog er nach Los Angeles. Seine Route: von der Ost- zur Westküste. Zunächst aber nach San Francisco, und zwar über den Highway 1, »die schönste Küstenstraße der Welt.« Der Greyhound-Bus, dem er sich anvertraute, bog aber in Obispo ab, er konnte gerade noch aussteigen. »I come from Germany. Can you help me?« Er wurde nach Morro Bay geschickt, von dort sollte es am nächsten Morgen – weiter über den Highway 1 – bis nach San Francisco gehen. Es war dreiundzwanzig Uhr. Von Morro Bay, glaubte Wernicke, der ein Schild am Straßenrand las, trennten ihn zwölf Kilometer, die konnte er unter die Sohlen nehmen. Dummerweise wies das Schild statt Kilometern Meilen aus – wie gesagt, sein Englisch ist lausig. Die ganze Nacht ist er durchgetippelt, als er plötzlich hunderte Lichter wie auf einem Güterbahnhof sah. Er hatte schon Blasen an den Füßen, als er wiederum ein Schild mit der Aufschrift »Camp« entdeckte. Froh marschierte er auf die Lichter zu, da kam ihm ein »großer Typ mit 'ner Maschinenpistole« entgegen. Wernicke hatte sich einem Militärcamp mit mexikanischen Flüchtlingen genähert. Also schnellstens Kehrtmarsch und Gas geben! Morgens erreichte er Morro Bay, eine einsame Tankstelle. »I come from Germany. Can you help me?« Ach, kein Bus würde hier fahren, er müsse nach Obispo zurück, zwölf Meilen, zwanzig Kilometer. Der Tankwart, ein netter Mann, hat ihn zum Glück hinkutschiert. So kam er dann doch noch nach San Francisco. In der Frühe, noch schlief die Stadt, lief er über die Golden Gate Bridge und hörte unten die Nebelsirenen. Die Sirenen seiner Sehnsucht, die ihn die Strapazen vergessen ließen.
Von San Francisco zog er dann sechseinhalbtausend Kilometer weiter – Sacramento, Salt Lake City, Kansas City, Denver, Sant Louis, Chicago und rund um den Michigansee. In Salt Lake City ist Wernicke noch einmal ein »Hammer« passiert: Der Greyhound hielt an einer Tankstelle – Tankstellen scheinen sein Schicksal zu sein. Wernicke ging zur Toilette Als er zurückkam, war der Bus weg. Und mit ihm sein ganzes Gepäck. Er hatte »was durcheinandergebracht«: Der Fahrer hatte den Reisenden nicht fünfzehn, sondern nur fünf Minuten Pause gegönnt. Wernicke und seine Brocken Englisch. »My luggage, my luggage«, jammerte er. Erst morgens um sechs gelang es dem Tankwart, den Busterminal in Denver zu erreichen. »Your luggage in Denver: okay.« Der nächste Bus nach Denver kam leider erst zwölf Stunden später vorbei. Dennoch, Wernicke hatte Glück im Unglück: Er bekam sein Gepäck zurück, einschließlich der Lesebrille.
Das sind Wernickes Geschichten. Geschichten von Pleiten, Pech und Pannen. Warum tut er sich das an? Pleiten, Pech und Pannen gibt es, damit Wernicke sie meistert. Im Nachhinein nennt er sie Abenteuer.
Abenteuer findet einer, der wie Wernicke reist, überall. Einmal ist er in Kanada von Calgary hoch nach Jasper getrampt, immer entlang der Rocky Mountains. Eines Abends, schon hüllte ihn Dunkelheit ein, hat er sein Bergzelt aufgebaut – er war mutterseelenallein. Auf einmal las er, es sei ratsam, Essbares sicher zu verschließen, am besten in einer eisernen Box – Bären durchquerten Gebiet. Kaum hatte er sich in sein Zelt verkrochen, alles andere als eine Eisenbox, brachen Blitz und Donner los, urgewaltig in den Bergen. Gut möglich, dass Margit in Berlin in diesem Moment aus den Kissen hochfuhr und um ihren Karl-Heinz zitterte. Der lief morgens ins nächste Städtchen, um sich im Tante-Emma-Laden einen Spazierstock »mit Bimmeln dran« zu besorgen, der die Bären fernhalten sollte. Zum Bimmeln hat er dann laut gesungen, ein Wanderlied aus Germany. Auch dies ist seither ein Klang der Freiheit – nicht lockend wie die Schiffssirenen, sondern, hoffentlich, abschreckend.
Dänemark, Schweiz, Niederlande, Belgien, Portugal, Großbritannien, Schweden, Irland, Neuseeland, Frankreich, Italien, Spanien, Australien, Griechenland, Norwegen, Argentinien, Chile, Brasilien, Uruguay, Südafrika, Lesotho, Simbabwe, Sambia, Katar, Österreich – die Liste ließe sich fortschreiben. Zwei Länder fehlen Wernicke noch, bis das Versprechen eingelöst ist, das er sich einst in Hamburg gab. Im Frühling will er nach Kuba fliegen, von dort weiter nach Jamaika. Man könnte auf die Idee kommen, dass er vor irgendetwas davonläuft.
Er ist achtundsechzig und wird nicht jünger. Er sagt, dass er nicht vorhabe, in einem Krankenhaus zu sterben. Wenn es denn so weit sein sollte, soll der Tod ihn auf einem Trip, bei einem Abenteuer ereilen. Margit ist davon nicht begeistert. Sie tröstet sich mit dem Gedanken, dass das ganze Leben eine Reise ist. Doch wo diese Reise zu Ende geht, vermag niemand zu planen, der leben möchte. Und so gut kennt sie ihren Karl-Heinz: Er liebt das Leben viel zu sehr, als dass er freiwillig abträte. Tritt er eines Tages ab und begegnen sie sich dereinst, wird er sagen: »I come from Germany.«
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