Rückzug ins Schleusenhäuschen

Im Februar 1990 saß Rolf Henrich am Runden Tisch und galt als politisches Schwergewicht mit Zukunft. Doch es kam alles ganz anders

  • Roland Heine
  • Lesedauer: 10 Min.
Es war ein Novum für beide Seiten: Am 9. Februar 1990 druckte das »Neue Deutschland« ein langes Interview mit Rolf Henrich, Autor der spektakulären DDR-Analyse »Der vormundschaftliche Staat«, Mitbegründer des Neuen Forums. Noch wenige Monate zuvor war Henrich als Verräter behandelt worden, er verlor die Zulassung als Anwalt, es folgte der SED-Ausschluss. Zum Zeitpunkt des Interviews wurde der Jurist, der auch am Runden Tisch saß, noch als Mann für höhere Ämter gehandelt. Kaum jemand ahnte, dass er bereits an Rückzug aus der Politik dachte.
Sagte das Ende der DDR voraus: Henrichs marxistische Analyse »Der vormundschaftliche Staat«
Sagte das Ende der DDR voraus: Henrichs marxistische Analyse »Der vormundschaftliche Staat«

Die Birke gibt es noch. Sie steht am Ende des tief verschneiten Dammwegs zur alten Schleuse Hammerfort, nun 15 Meter hoch vielleicht, etwas gebeugt, das Weiß des Stammes von grünen Flechten nahezu überdeckt. Es ist einsam hier und ziemlich feucht. Trotz des Frostes rauscht Wasser durch das halb verfallene, hölzerne Schleusentor – seit vielen Jahrzehnten schon wird der alte Brieskowkanal südlich von Frankfurt (Oder) nicht mehr genutzt. Zwei kleine Schritte sind es von der Birke bis zum Zaun der Schleusenmeisterei, ein Häuschen aus verwittertem Backstein hinter allerlei Nadelgehölz, Efeu bis zum Dach, Eiszapfen an der Rinne, ein sattgrüner Briefkasten, darauf von Hand gepinselt: R. + H. Henrich. Der Zaun stammt noch aus DDR-Zeiten, dünnes Profileisen mit braunem Rostschutzanstrich.

Zwischen Zaun und Birke hatte Rolf Henrich ihn damals vergraben, den Manuskriptdurchschlag seines Buches »Der vormundschaftliche Staat«. Ende 1987 abgeschlossen, erschien es kurz vor der Wende im Westen und sorgte für ziemlich viel Aufregung. Es war eine marxistische Analyse des real existierenden Sozialismus, nicht auf Erscheinungen beschränkt, sondern es zielte auf Strukturen: Anknüpfend an Rudolf Bahro sezierte der Rechtsanwalt Henrich, selbst Absolvent einer höheren SED-Parteischule, Ursachen der Fehlentwicklung zu einem bürokratisch verkrusteten Obrigkeitsstaat mit Gesinnungsstrafrecht. Und er prognostizierte das Scheitern des Systems.

Später wird mancher sagen, »Der vormundschaftliche Staat« sei so etwas wie die theoretische Basis der DDR-Bürgerbewegung gewesen. Tatsächlich gehörte Henrich im September 1989 zu den Gründern des Neuen Forums, für das er auch am Runden Tisch saß. Doch schon im Februar 1990, kurz nach jenem ND-Interview, zog er sich trotz hochkarätiger Postenangebote wieder aus der Politik zurück. Er hielt die Beteiligung des Neuen Forums am Parteiengerangel für falsch, so wie er den Parteienstaat generell als unfähig zur Lösung der Zukunftsfragen hält. Heute sagt er mit Blick auf seine Mitstreiter von einst: »Man hat sich nichts mehr zu sagen.«

Warum er das Buch schrieb, hat Henrich seinerzeit schon im Nachwort erklärt: Zu Diskussionen Anlass geben wolle er, vor allem darüber, »ob der Staatssozialismus, und zwar so, wie wir ihn kennengelernt haben, tatsächlich weltweit die nächste Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung nach der bürgerlichen Gesellschaft darstellt oder nicht«. Ein Appell an »alle an einer Verbesserung des deutschen Staatssozialismus interessierten Kräfte«, geschrieben »natürlich zuerst für die Mitglieder meiner Partei selbst«.

Das Loch unter der Birke hat Henrich damals mehr als einen Meter tief gegraben: »Eine Sicherung, falls mein Buch auf dem Weg aus der DDR beschlagnahmt werden würde.« In einem übergroßen, bauchigen Gurkenglas mit Schraubverschluss versenkte er die Durchschläge im Hammerforter Boden. Doch das Original, an Stelle von Hallorenkugeln in Pralinenschachteln von Freunden über die Grenze gebracht, kam unentdeckt bei Rowohlt in Hamburg an. Und so passierte zunächst nichts. Als das Buch allerdings im Frühjahr 1989 erschien, ging alles sehr schnell: Ausschluss aus dem Rechtsanwaltskollegium, SED-Ausschluss, faktisch Berufsverbot. Krenz und Honecker persönlich beschäftigten sich mit der Angelegenheit, zur Verhaftung kam es nicht.

»Sie wollten wohl einen neuen Fall Bahro vermeiden«, sagt Henrich heute. Allerdings stand plötzlich unweit des Schleusenhäuschens ein Forstwagen, besetzt mit jungen Männern. Auch wurde am Kanal auf einmal geangelt, was das Zeug hielt. Noch am 11. Oktober 1989 erschien in der »Jungen Welt« ein riesiger Artikel mit der Überschrift: »Henrich! Mir grauts vor dir!« Selbst nach dem Mauerfall, so weiß Henrich heute, arbeitete das MfS noch an einem Plan zu seiner Kaltstellung.

Inzwischen ist Henrich fast 66 Jahre alt, immer noch irgendwie jungenhaft, ein Kettenraucher, der auf die Feststellung Wert legt, doch nur Light-Zigaretten zu konsumieren. Wenn er mit seiner sonoren Stimme über die DDR und die Wendezeit redet, dann tut er das, trotz bisweilen ausladender Gestik, seltsam distanziert. Henrich selbst spricht von Altersmilde.
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Nach dem Jura-Studium an der Humboldt-Uni Berlin eröffnete er 1973 eine Anwaltskanzlei in Eisenhüttenstadt, war SED-Parteisekretär des Anwaltskollegiums Frankfurt (Oder). Der Autor des Buches »Der vormundschaftliche Staat“ wurde im Frühjahr 1989 aus der SED ausgeschlossen. Heute lebt er zurückgezogen in Ostbrandenburg.
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An den Tag des ND-Interviews vor 20 Jahren kann er sich durchaus erinnern: »Ja, das Gespräch wurde im ND-Gebäude am Berliner Ostbahnhof geführt.« Und leicht grienend setzt er hinzu: »Ich glaube, ich kann so ziemlich jeden Satz heute noch unterschreiben.« Tatsächlich? Auch die Ankündigung eines Wirtschaftswunders? »Na ja. Möglicherweise war das ein klein wenig zu optimistisch. Wir haben damals natürlich auch taktisch gesprochen und wollten angesichts der Ängste ja auch Zuversicht verbreiten.« Aber, holt Henrich dann aus, nehmen wir mal Eisenhüttenstadt. »Der alte Stadtteil Fürstenberg war eine einzige große Bruchbude, im Grunde war er aufgegeben. Jetzt ist der Verfall eindeutig gestoppt, schauen Sie sich die Königsstraße an. Auch die Stalinstadt-Bauten sind saniert, jetzt kommen westdeutsche Architekten busweise zur Besichtigung. Und das Eisenhüttenkombinat? Da haben wir mit ArcelorMittal – wenn wir von der aktuellen Krise, die alle trifft, absehen – eine absolute Erfolgsgeschichte. Ja, es waren mal 12000 Beschäftigte, jetzt sind es 2500. Aber man muss die Ausgründungen mitrechnen, oft sehr moderne Betriebe.«

Das ND als Kaufobjekt

Dass dies hier längst nicht alle so sehen, das weiß Henrich. In »Hütte«, wie er sagt, kennt er sich aus, seine Kanzlei liegt in der Fürstenberger Oderstraße. Selbst ist er allerdings nur noch ein, zweimal in der Woche dort, seine Frau und ein Kanzleipartner aus dem Westen sind täglich präsent.

Die stille Oderstraße ist in der Tat hübsch anzusehen, links und rechts Ackerbürgerhäuser, bis auf wenige Ausnahmen renoviert, jede Viertelstunde erklingt das Geläut der backsteinernen Nikolaikirche, von der man weit über die Oderwiesen nach Polen schauen kann. Auch die Königsstraße nebenan wurde nach der Wende saniert. Allerdings bröckelt hier schon wieder manche Fassade, und aus den Geschäften sind, wie in vielen kleinen Innenstädten, vor allem Billigläden geworden.

Henrichs Kanzlei vertritt heute viele Wirtschaftsleute, Mittelständler aus der Region. Im »Vormundschaftlichen Staat« hatte er für die Dreigliederung der Gesellschaft nach Rudolf Steiner plädiert: Freiheit im Geistesleben, Gleichheit im Rechtsleben, Brüderlichkeit im (marktwirtschaftlichen) Wirtschaftsleben – wobei die Produktionsmittel in eine Art Treuhandeigentum zu überführen wären, um bei aller Markwirtschaft ihre Sozialbindung zu sichern. In der Wendezeit dann konnte er selbst einschlägige Erfahrungen sammeln – als Mitglied im Team von Gruner&Jahr-Chef Schulte-Hillen, der 1990 möglichst schnell mit dem Aufkauf von DDR-Zeitungen beginnen wollte.

»Damals wurde«, erzählt Henrich, »auch eine Zeit lang über den Kauf des ND gesprochen – man war ja wie hypnotisiert von der großen Auflage.« Warum es dann nicht so kam, weiß er nicht. »Aber dass die Zeitung trotz aller Probleme heute eine solche Qualität halten kann, das ist erstaunlich.« Bis heute gehört das ND für Henrich zur großen Zeitungsschau, wenn er sich am Wochenende mal die Zeit dafür nimmt.

Über den Einigungsvertrag wenig später hat sich Henrich geärgert – zu viel Erhaltenswertes sei nicht berücksichtigt: das Positive am DDR-Schulsystem und im Agrarbereich etwa, auch die klare DDR-Gerichtsstruktur: »Das hätte man so nicht unterschreiben dürfen«, sagt er. Im Winter 1990/91 zog er sich wieder ganz ins Oderland zurück.

Erst Ende der 90er Jahre machte der Anwalt aus Hammerfort noch einmal Schlagzeilen. Damals verteidigte er einen General der DDR-Grenztruppen. Dem wurde der Prozess gemacht, weil er einige Jahre für Minen und Selbstschussanlagen an der Grenze zuständig war. In seinem Kurzroman »Die Schlinge«, der bald darauf erschien, beschreibt Henrich, was er »Schauprozess light« nennt: den unzulässigen und unbrauchbaren Versuch, heutiges Recht rückwirkend auf Vorgänge in der DDR anzuwenden. »Strafrecht«, so sagt er, »ist grundsätzlich ein untaugliches Mittel, um Vergangenheit aufzuarbeiten.«

Zugleich aber lässt Henrich keinen Zweifel, dass er die Beschäftigung mit der Geschichte für unverzichtbar hält. »Mir kommt es darauf an, dass wir nicht wieder unter Berufung auf höchste Menschheitsideale in etwas hinein rennen. Der Weg zur Mauer, zur Verminung der Grenze war ja auch mit besten Vorsätzen gepflastert. Die Leute wollten ehrbar sein, auf Seiten der historischen Wahrheit stehen, aber ihr Ideal, den Sozialismus, anderen oktroyieren.«

Henrichs Bücher sind im Handel nicht mehr lieferbar, und in Bibliotheken müssen Interessierte meist die Fernleihe bemühen. Als darauf die Rede kommt, steht Henrich auf, verschwindet auf steiler Treppe im Dachraum der Kanzlei und überreicht schließlich ein paar nagelneue Exemplare. Aber das Schicksal seiner Bücher scheint ihn nicht wirklich zu grämen. Henrich schaut fast etwas versonnen durch seine dunkle Brille, als er sagt: Ja, »Die Schlinge«, das ist ein gutes Buch. Und tatsächlich: Der am Ende offene Roman wäre gut geeignet für die differenzierte Auseinandersetzung mit der DDR gerade in oberen Schulklassen.

Aber auch so kommen noch heute Leserbriefe. Henrich erzählt von einem ehemaligen Richter am Obersten Gericht der DDR, der einst auftragsgemäß ein rechtskräftiges Urteil in einem Fall aufhob, den der Junganwalt Henrich bereits in zwei Instanzen für seinen Mandanten gewonnen hatte. »Es ging«, erklärt Henrich, »um einen LPG-Austritt aus Gesundheitsgründen. Die klamme Genossenschaft weigerte sich, meinen Mandanten entsprechend der DDR-Gesetze auszuzahlen. Der Richter schrieb nun, er habe die Kassation zugunsten der LPG schon damals als Unrecht empfunden und wolle sich endlich entschuldigen. Und er bat mich, das auch meinem damaligen Mandanten zu übermitteln. Ich habe freundlich zurückgeschrieben und erklärt, ich hätte damals selbst auch Dinge getan, die ich heute nie mehr tun würde.«

Ohnehin stört Henrich sehr, »dass heutzutage in der Öffentlichkeit gern auf eine kleine Gruppe vermeintlicher Täter gezeigt wird, während sich Zug um Zug die große Gruppe der angeblich Unschuldigen konstituiert. Das Täter-Opfer-Schema aber wird der Geschichte nicht gerecht.« In diesem Sinne bewertet er auch den Umgang mit den Stasi-Akten, eine angemessene Beschäftigung mit dem Thema finde nicht statt. Zudem würden gerade durch die Medien gern längst über Bord gegangene moralische Maßstäbe künstlich wieder in Kraft gesetzt, um noch die trivialste Enthüllung durch Skandalisierung in Szene setzten zu können.

Zu alledem gehört für Henrich auch die Frage, welches Ausmaß die Kontrolle des Einzelnen denn eigentlich heute erreicht hat. »Lochkarten, Hefter, Handschriftliches – beim MfS war das doch alles Manufakturarbeit. Heute weiß man gar nicht mehr, wo überall persönliche Daten gesammelt werden, und zwar per Computer. Wie sehr der Rechtsstaat bereits gefährdet ist«, sagt Henrich und nickt zum Regal mit den ziegelsteingroßen, leuchtend roten Gesetzesbüchern, »das können wir doch bestenfalls ahnen.«

Irreparable Tore

Überhaupt ist Henrich, der sich in ArcelorMittals Stahlstiftung für Kunst und Kultur in der Region engagiert, alles andere als zuversichtlich. Geld ist der einzige Wert, der geblieben ist, sagt er, Geld und Macht. Das Gebaren des Parteienstaates läuft für ihn angesichts der Selbstläufigkeit heutiger Entwicklungsprozesse – vor allem im Technikbereich – auf Bürgerbetrug hinaus. »Die Parteipolitiker tun so, als ob es für sie noch nennenswerte Gestaltungsspielräume gebe. Die Finanzkrise hat doch gerade gezeigt, dass selbst der US-Präsident kaum welche hat.« Und: Natürlich könne die LINKE etwa die Hartz-IV-Sätze verdreifachen. Aber auch dann werde die westliche Welt weiter von der Ausplünderung des Planeten leben.

Es ist, als würde die alte, undichte Hammerforter Schleuse vor seinem Wohnhaus, die beim besten Willen nicht mehr zu schließen wäre, ein Sinnbild sein für Henrichs Weltsicht. Nein, ein Modell, durch das der Parteienstaat zu ersetzen wäre, das hat er auch nicht. Henrich, der an einem neuen Buch schreibt, ist kein Schleusenmeister, kein Flussregulierer. Er misst den Pegelstand, beurteilt ihn. Schon im »Vormundschaftlichen Staat« findet sich der Satz: »Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die beängstigenden Menschheitsprobleme global gelöst werden.« Inzwischen findet Henrich diesen Satz übertrieben optimistisch.

PS: Das Gurkenglas mit dem Zweitmanuskript liegt nicht mehr unter der Birke am Schleusenhaus Hammerfort. Henrich hat es im Sommer 2001 auf Bitten eines TV-Teams ausgraben lassen. Heute steht es in einer Museumsvitrine des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig: 26 Zentimeter hoch, der weiße Schraubverschluss ist etwas angerostet.

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