»Sachleistungen entmündigen Menschen«
Flüchtlingsaktivistin Marei Pelzer: Auch Regelsätze für Asylbewerber sind verfassungswidrig / Marei Pelzer ist rechtspolitische Referentin des Flüchtlingsnetzwerks Pro Asyl
ND: Sie haben in einer Pressemeldung geschrieben, dass nach der Karlsruher Entscheidung zu Hartz IV die Regelsätze für Asylbewerber ebenfalls verfassungswidrig sind. Wo ist da der Zusammenhang?
Pelzer: Das Bundesverfassungsgericht hat bezogen auf Hartz IV entschieden, dass die Leistungen nicht auf »offensichtlich freihändig geschätzten« Zahlen beruhen dürfen. Was bei Hartz IV bemängelt wird, ist bei den Leistungen für Asylsuchende noch viel krasser der Fall: Die Betroffenen müssen seit 1993 von um mehr als 35 Prozent gekürzten Sozialleistungen leben. Bei Kindern unter acht Jahren gibt es weitere Abzüge. Hier ist nicht nur die Festsetzung willkürlich – die gekürzten Leistungen machen aus den Betroffenen auch noch Bedürftige zweiter Klasse.
Wie hoch sind die Leistungen für Flüchtlinge bisher?
Seit Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes im Jahr 1993 sind die Sätze von 360 DM für den Haushaltsvorstand, 220 DM für Kinder unter acht Jahren und für andere Familienmitglieder 310 DM nicht mehr geändert worden. Der Gesetzgeber hat nicht einmal eine Umrechnung auf Euro-Beträge vorgenommen geschweige denn die Beträge der Inflationsrate angepasst. Asylsuchende, Geduldete und auch Menschen mit einem humanitären Aufenthaltsstatus werden mindestens vier Jahre vom sozialen Existenzminimum ausgeschlossen und müssen unter Mangelversorgung leiden.
Wie leben die Menschen damit?
Der Alltag ist für die Betroffenen sehr belastend. Sie bekommen die
Mangelversorgung in allen Lebensbereichen zu spüren – angefangen bei der Kleidung, über Stifte und Hefte für die Schule bis hin zu Lebensmitteln. Hinzu kommt ja auch, dass in manchen Bundesländern nur Sachleistungen gewährt werden. Das bedeutet Lebensmittelpakete, Zwangsunterbringung in Lagern und Kleidung aus der Kleiderkammer. Sachleistungen entmündigen Menschen. Dies ist weder für Flüchtlinge noch für Hartz-IV-Bezieher zumutbar.
Werden hier von den Gerichten, ähnlich wie bei der Residenzpflicht, Sonderregelungen für Menschen ohne deutschen Pass herangezogen, um Ungleichbehandlung zu rechtfertigen?
Das Asylbewerberleistungsgesetz wurde als Teil einer Abschreckungsstrategie gegen Flüchtlinge eingeführt. Pro Asyl fordert die Abschaffung des Gesetzes, weil es nur eine Menschenwürde gibt. Eine Unterscheidung beim sozialen Existenzminimum darf es nicht geben.
In der Erwerbslosenbewegung wird die These vertreten, dass der Umgang mit Flüchtlingen ein Experimentierfeld ist, das dann auch auf andere Gruppen von Erwerbslosen angewandt wird.
Das kann man so sagen. Vieles von dem, was die Agendapolitik gebracht hat, wurde vorher schon an Flüchtlingen ausprobiert. Ein Beispiel ist, dass Asylsuchende zur Arbeit gezwungen werden können. Hartz IV hat den so genannten Ein-Euro-Job als neue Form des Zwangs gebracht. Ebenfalls kann man die verstärkte Möglichkeit nennen, die Leistungen bis auf Null zu drücken. Der völlige Entzug von Leistungen zur Verhaltenskontrolle ist im Asylbereich schon seit Längerem bekannt.
Kommt das Thema Regelsätze für Asylbewerber in der Debatte um Hartz IV ihrer Meinung nach zu kurz?
Wir hoffen sehr, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch positive Effekte für das Leistungsrecht für Asylsuchende haben kann. Die Politik sollte von sich aus die notwendigen Reformen auch auf diese Gruppe ausweiten. Wenn sie sich weigert, bleibt wohl auch hier nur der Gang nach Karlsruhe. Es ist an der Zeit, den Skandal der Mangelversorgung von Asylsuchenden endlich zu beenden.
Fragen: Peter Nowak
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