»Bücher sind der Schlüssel zur Welt«

Ein kolumbianischer Lehrer versucht, seine Leidenschaft fürs Lesen unter das Volk zu bringen. Seine ungewöhnlichen Begleiter: zwei mit Literatur vollbepackte Esel

  • Kathrin Zeiske
  • Lesedauer: 7 Min.
Auch wenn der Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez im Bundesstaat Magdalena geboren wurde, ist Lesen dort nicht weit verbreitet. Luis Soriano, ein engagierter Lehrer, versucht das zu ändern, indem er mit zwei mit Büchern bepackten Eseln über die Dörfer zieht, um den Kindern und Erwachsenen seine eigene Lese-Leidenschaft nahezubringen.
Luis Soriano: Unterwegs mit den Eseln und vielen Büchern
Luis Soriano: Unterwegs mit den Eseln und vielen Büchern

Das grüne hohe Schilfgras erscheint in der gleißenden Sonne fast weiß. Sanfte Hügel ziehen sich bis zum Horizont, und nur ab und zu wird die Landschaft von einem knorrigen Baum unterbrochen, der Schatten spendet. Unter einem dieser Bäume sitzt ein Mann mit geflochtenem Hut, umringt von einer Gruppe Kinder; hinter ihm grasen zwei hellgraue Esel. Er liest aus einem Bilderbuch vor, und auch das von ihm aufgezogene Projekt scheint aus einem eben solchen entsprungen zu sein. Denn auf dem Rücken der beiden Esel, die bezeichnenderweise Alfa und Beto heißen, (alfabeto, auf Spanisch »das Alphabet«) trägt er eine kleine Bibliothek von Dorf zu Dorf im nordkolumbianischen Bundesstaat Magdalena.

Unterwegs mit der mobilen Bibliothek

»Es ist so unendlich wichtig, dass Menschen Zugang zu Büchern haben. Sie sind der Schlüssel zur Welt. Vor ein paar Jahren war ich zum ersten Mal in der Hauptstadt; aber die gesamte Welt habe ich mir schon lange vorher durch Lesen erschlossen«, sagt Luis Soriano, der in der kleinen Ortschaft La Gloria als Lehrer arbeitet und am Wochenende mit der mobilen Eselsbibliothek unterwegs ist. Seine dunklen Augen hinter der schmalen Brille scheinen stets zu leuchten. Wenn er von seinen drei Kindern erzählt; von der Prüfung, die ihn letzte Woche endlich zu einem staatlich anerkannten Lehrer machte; von seiner Bibliothek, die immer größer wird und nun schon in einem Neubau neben dem Haus untergebracht ist, anstatt sich weiter im Wohnzimmer zu stapeln.

Was einst mit einer privaten Buchsammlung begann, ist zu einer kleinen Institution herangewachsen. In dem weißgetünchten Bibliotheksgebäude ist Dantes »Göttliche Komödie« genauso zu finden wie der letzte Band von »Harry Potter«. Und mitten drin Luis Soriano. Ganz alleine ist der autodidaktische Büchergelehrte hier im kolumbianischen Hinterland nicht; immerhin wurde der Weltliterat Gabriel García Márquez nur drei Autostunden entfernt von in Aracataca geboren. Der verschlafenen Ort nahe der Bananenplantagen der Karibikküste soll den Autor beim Schreiben seines Generationenromans »Hundert Jahre Einsamkeit« inspiriert haben.

Doch wen Luis noch lieber liest als den magischen Realisten García, ist der Andalusier Juan Ramón Jiménez; ebenfalls Literaturnobelpreisträger. »Mir kommen die Tränen, wenn ich nur an Platero und ich denke«, seufzt er und beginnt, aus dem Gedicht zu zitieren, das auch in Kolumbien zur Schullektüre zählt. Die Geschichte der Freundschaft des Ich-Erzählers mit einem kleinen Esel scheint nicht weit von Luis' Lebensrealität entfernt. Jeden Samstag hängt er seinen beiden störrisch guckenden Eseln ein paar Packtaschen voller Bücher über, befestigt einen ausklappbaren Plastiktisch am Sattel und trägt die Literatur der Welt hinaus in abgelegene Dörfer.

Die friedliche Landschaft täuscht

Heute geht es nach La Fortuna; ein Landstrich, auf dem ein paar vereinzelte Holzhäuser zu finden sind. Wie das von José Correa und Hilda Tolines, die dort mit fünf Kindern, einem Bruder von José und seinem Vater leben und Kühe züchten. Ihr Haushalt umfasst zwei Holzbetten, ein paar Stühle, Töpfe, Teller und einfache landwirtschaftliche Geräte; ein Buch ist hier nicht zu finden. Dafür hat Luis Soriano heute eine ganze Auswahl mitgebracht. Die Kinder hängen gebannt an seinen Lippen, als er ihnen die Geschichte von Pinocchio vorliest. Der älteste Bruder ist jedoch schon dabei, sich eigene Lektüre aus dem Fundus der Packtaschen herauszusuchen.

»Hier gibt es nichts als weite Grasebenen und ein paar vereinzelte Bäume. Würde man noch eine Giraffe und einen Elefanten hineinstellen, würde man denken, es sei die Serengeti«, lacht Luis. Doch die friedliche Landschaft täuscht; die Gegend ist wie so viele Regionen Kolumbiens seit Jahrzehnten vom bewaffneten Konflikt gezeichnet. Die Guerillagruppen FARC, ELN, die Paramilitärs, das Heer; alle sind in Magdalena versammelt. Auch Luis' Geschichte ist davon gezeichnet. Als eines Tages Paramilitärs vor der Tür seiner Eltern im Dorf Nueva Granada stehen und fragen, ob sie eine Waffe in ihre Obhut geben können, hätte abzulehnen den sicheren Tod bedeutet. Doch dafür bleiben nun Drohungen der FARC nicht aus. »Die Zivilbevölkerung hat kaum eine Chance, sich aus dem Konflikt herauszuhalten.« Luis schüttelt traurig den Kopf.

Mit acht Jahren wird er zum Binnenflüchtling. Seine Großmutter, zu der er geschickt wird, um zu studieren, beherbergt einen Schatz in ihrem Haus: ein gut bestücktes Bücherregal. Als Luis dort »Ali Baba und die 40 Räuber« entdeckt, ist es um ihn geschehen; er entwickelt sich zu einem fanatischen Bücherwurm. Mit 16 Jahren kehrt er mit einem Schulabschluss zu seinen Eltern zurück und bringt von nun als Grundschullehrer Kindern das Lesen bei. Die Analphabetismusrate liegt in Kolumbien bei fünf Prozent; in den ländlichen Grundschulen werden bis zu 50 Schüler in einer großen Klasse von einer einzigen Lehrkraft unterrichtet. Nur die Hälfte aller Kinder besucht nach der Grundschule eine weiterführende Schule.

»Wer hier auf dem Land Lehrer ist, der ist auch gleichzeitig Sozialarbeiter«, erklärt Luis. »Immer wieder muss man zu den Eltern gehen und sie dazu anhalten, ihre Kinder in die Schule zu schicken.« Heute gibt es Zeugnisse in La Gloria; die Schüler der Abschlussklasse tragen feierliche Roben, und auch Familienangehörige und kleine Geschwister haben ihre Festtagskleidung angelegt. Sonst zeugen löchrige T-Shirts und abgewetzte Jeans von der ökonomischen Armut. Für den Besten der Schüler konnte Luis bei der Gemeinde ein Stipendium für den Besuch einer höheren Schule erkämpfen. »Ich sage den Kindern, lasst euch nicht von dummen Leuten beherrschen. Lest, denn Wissen ist Macht, und Bücher sind eine Waffe, mit der ihr die Bewaffneten schlagen könnt.« Doch auch er hat Angst. Manchmal vermeidet er Auseinandersetzungen mit älteren Schülern. »Vielleicht sind sie schon ein Jahr später bei den Paramilitärs und erinnern sich an mich.«

Paramilitärische Gruppen entstanden ab den 60er Jahren in Kolumbien als Antwort der Eliten auf eine wachsende innenpolitische Destabilisierung. In den 90er Jahren führten sie einen regelrechten Vernichtungsfeldzug gegen alle oppositionellen Gruppen; nicht nur gegen die Guerilla. »Hier in der Gegend haben es viele Leute zu etwas gebracht, wenn sie bei den Paramilitärs organisiert waren. Selbst wenn ihnen nur Land übergeben wurde, von dem der Besitzer vertrieben worden war«, erzählt Herder Ortiz freimütig, der sich als ehemaliger Bewaffneter des Nordblocks der Vereinigten Bürgerwehren Kolumbiens (AUC) bezeichnet. Seit damals hat er immer noch einen Posten im Stadtrat der Gemeinde El Difícil inne und arbeitet heute nebenbei als Fahrer. »Dies hier ist die Kurve, hinter der die Leute erschossen wurden, die mit der Guerilla kollaborierten oder die einfach nicht gehen wollten. ›Die letzte Träne‹ wurde der LKW genannt, der sie dort hin brachte«, erwähnt Herder lapidar und zeigt aus dem Wagenfenster.

Der Tod lauert an jeder Ecke

Heute gelten die Paramilitärs offiziell als reintegriert, doch Nichtregierungsorganisationen gehen von der Existenz von 82 Gruppen mit insgesamt 10 000 Bewaffneten in 25 der 32 Departamentos von Kolumbien aus; mindestens die Hälfte von ihnen altgediente Söldner der AUC. Präsident Álvaro Uribe gibt den Versuch, die militärische Niederlage der Guerilla zu erringen, als Kampf gegen die Gewalt im Land aus; dabei ist es der wieder erstarkende Paramilitarismus, der diese mehrheitlich hervorbringt. »Dort, wo gestern die Granate hochgegangen ist«; »Da, wo sie die drei Jungen umgebracht haben«, sind gängige Ortsbeschreibungen in Magdalena, wenn jemand auf einen Platz, eine Straße, ein Dorf verweisen möchte. 35 000 Personen sterben in Kolumbien jedes Jahr in Folge von Gewalttaten. 3,5 Millionen Binnenflüchtlinge hat der nicht deklarierte Krieg zwischen Militär/Paramilitärs und Guerilla bisher hervorgebracht; Tendenz steigend.

»Die Jugendlichen auf dem Land sind gefährdet, dass eine der beiden Gruppen sie mitnimmt, um ihre Reihen aufzufüllen. Erst Bildung schützt vor einem auszehrenden Leben im bewaffneten Kampf. Denn wer Bildung hat, der lässt sich nicht so leicht beeinflussen«, sagt Luis und trinkt einen Tinto, den starken süßen Kaffee, den man in Kolumbien auch bei größter Hitze serviert bekommt. Gleich wird er wieder ausziehen, um seiner selbst gewählten Mission nachzugehen: die Kultur des Lesens in diese entlegene Gegend zu tragen und Werte abseits der Gewalt unter den Kindern und Jugendlichen zu verbreiten.

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