Der Staat und seine Kirchen
Die Protektion christlicher Religiosität ist der deutschen Politik lieb – und teuer
Die Berliner Urania war kürzlich Ort einer bemerkenswerten Veranstaltung. Umriss doch der Titel »Die Privilegien der Kirchen und das Grundgesetz« ein Thema, das in den Mainstream-Medien bestenfalls eine marginale Rolle spielt: die Verfilzung von Staat und Kirche in Deutschland. Dass die – so der Untertitel – »4. Berliner Gespräche über das Verhältnis von Staat, Religion und Weltanschauung« von der veröffentlichten Meinung weitgehend unbeachtet blieben, ist daher nicht verwunderlich. War Kirchenkritik seit der europäischen Aufklärung über Jahrhunderte selbstverständlicher Bestandteil der intellektuellen Debatte, gilt sie mittlerweile als anrüchig, bestenfalls als altmodisch und verstaubt.
Wohl noch bemerkenswerter ist der Umstand, dass die von der Humanistischen Union initiierte Tagung gemeinsam mit der »Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit« ausgerichtet worden war. Steht doch die Naumann-Stiftung bekanntlich der FDP nahe. Und es war ein Bundesparteitag der FDP, der 1974 das viel beachtete Thesenpapier »Freie Kirche im freien Staat« verabschiedet hatte. Mit Blick vor allem auf die Stellung der beiden Großkirchen enthielt es Forderungen wie die Ablösung des Status der Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts, die Ersetzung der Kirchensteuer durch ein kircheneigenes Beitragssystem, die Aufhebung der Kirchenverträge und Konkordate sowie der Staatsleistungen und finanziellen Sondervorteile. Nachdem das FDP-Papier seinerzeit von Kirchen und Konservativen massiv diffamiert worden war, verschwand es in der Schublade.
Seit Kurzem haben die Freidemokraten wieder teil an der Regierungsmacht. Und im schwarz-gelben Koalitionsvertrag steht der apodiktische Satz: »Den Christlichen (Großschreibung im Original - I. B.) Kirchen kommt eine unverzichtbare Rolle bei der Vermittlung der unserem Gemeinwesen zugrunde liegenden Werte zu.«
Eröffnet wurde die Veranstaltung von Irmgard Schwaetzer, ehemalige Bundesministerin, Mitglied des Vorstandes der Naumann-Stiftung und – Vorsitzende des Domkirchenkollegiums des Berliner Doms. Wohl vor allem aufgrund letzterer Funktion kam Schwaetzer nicht umhin, zu fragen, ob es denn »tatsächlich Privilegien« seien, »was die Kirchen in unserem Staat haben«. Oder ob dies nicht die »selbstverständliche Konsequenz der fördernden Neutralität des Staates« sei – »unverzichtbar für den ethischen Grundkonsens unserer Gesellschaft«.
Der zweite FDP-Protagonist, dem auch die Formulierung des Schlusswortes oblag, war der Bundestagsabgeordnete Pascal Kober, Theologe und Pfarrer, Vizesprecher der Gruppe »Christen in der FDP-Bundestagsfraktion«. Er verzichtete gleich auf die Frageform und sah definitiv »keine Privilegien« der Kirchen. Dafür unterstellte er den Kritikern der seit Dezennien ausgeteilten staatlichen Kirchengaben schlichten Neid. So habe er, Kober, den Eindruck, dass die Humanistische Union – Mitausrichter der Tagung – den Kirchen »bestimmte Dinge nicht gönnt«.
Solcherart von liberalem Zeitgeist durchweht, bewegte sich die Debatte zwischen Apologetik und Polemik, zwischen rechtfertigenden und kritisierenden Polen, die Juristen, Publizisten und Theologen setzten. Es ging für und wider die staatliche Einziehung der Kirchensteuer, für und wider die zum Teil jahrhundertealten Staatsleistungen, für und wider das Netz der Staatskirchenverträge.
Der Jurist Johann-Albrecht Haupt von der Humanistischen Union kam auf immerhin 38 Kirchenprivilegien, als deren bedeutsamste er neun hervorhob: Körperschaft des öffentlichen Rechts, Besteuerungsrecht, Religionsunterricht, theologische Fakultäten, Staatsleistungen, Anstalts- und Militärseelsorge, Staatskirchenverträge, spezielles Arbeitsrecht, Steuer- und Gebührenbefreiungen.
Änderungen zumindest in der öffentlichen Akzeptanz dieses Zustandes bewirken könnte ein Ereignis, das die deutsche Hauptstadt erst nach der Tagung in der Urania voll erwischte – der inzwischen weltweite sogenannte Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. In Parenthese: Wie mir eine Frau, die nach eigener Darstellung als Mädchen jahrelang in kirchlichen Heimen in der Bundesrepublik »missbraucht« worden war, sagte, empfinden viele Opfer diesen Begriff als Hohn und Verharmlosung. Es gehe um Gewalt. Um Vergewaltigung.
Im Übrigen sollte die massenhafte Verwicklung katholischer Prälaten nicht die Tatsache verdrängen, dass auch in der evangelischen Kirche – besonders mit Blick auf die kirchlichen Heime – ungeachtet der geringeren Dimensionen ausreichend Grund zu demütiger Rückschau besteht.
Seit Roms Kaiser Konstantin I. den Jesus-Kult protegierte, beziehen Herrschende ideologische Legitimation durch eine von ihnen gesponserte christliche Kirche. »Denn«, so verfügte Paulus, der Erfinder des Christentums, in seinem Brief an die Römer, »es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt.« Und der Reformator Martin Luther fand es allen Ernstes besser, »durch die Obrigkeit zu leiden, als dass die Obrigkeit durch die Untertanen zu leiden hat. Denn der Pöbel besitzt und kennt kein Maß. In jedem Einzelnen stecken wohl mehr als fünf Tyrannen.« In Deutschland markiert die Abdankung Kaiser Wilhelms II. zwar offiziell das Ende des Bündnisses von Thron und Altar. Allerdings versucht Politik bis heute, zusätzliche Legitimation aus einer kirchenchristlichen Einbettung zu ziehen. So gelten prunkvolle »ökumenische Gottesdienste« zu staatlichen Anlässen nach wie vor als Selbstverständlichkeit.
Im Unterschied zu den tiefgläubigen Herrschern des Mittelalters bekennen sich indes mittlerweile viele deutsche Politiker wohl nur deshalb zum christlichen Glauben, weil sie damit persönliches Vertrauen zu gewinnen hoffen. Der Dortmunder Politikwissenschaftler Thomas Meyer verweist darauf, dass die Kirchen noch immer zu den Institutionen zählen, denen sehr viel Vertrauen geschenkt werde (Wieso eigentlich?). Deshalb sei der Rückbezug von Politikern aufs Christentum letztlich der Versuch eines Vertrauenstransfers.
Dieser Rückbezug stellt zweifellos ein entscheidendes Hindernis dar für eine klare Trennung von Staat und Kirche, von Politik und Religion. Was sich im aktuellen Gewaltskandal darin äußert, dass das bewährte Kartell Kirche-Politik alles tut, um die kriminellen Handlungen lediglich als Entgleisungen Einzelner zu verharmlosen und den Verweis auf strukturelle Fehlentwicklungen zu vermeiden.
Anstatt Deutschland endlich in der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts zu verankern, indem die Zeiten der »unverzichtbaren Rolle« der Kirchen bei der Wertebildung für beendet erklärt werden, wird eben diese Rolle von Schwarz-Gelb im Koalitionsvertrag sanktioniert. Und erst im vergangenen Monat vereinbarten die CDU und die beiden großen Kirchen eine »besonders enge Zusammenarbeit«.
Das ist die aktuelle und gleichwohl seit Jahrzehnten unveränderte Lage in Deutschland. Sie ist dem Staat lieb und – teuer. Der Münchner Rechtsanwalt Johannes Wasmuth nannte auf der Berliner Tagung die ungeheure und ungeheuerliche Zahl von rund 18 Milliarden Euro, die – außerhalb des Kirchensteueraufkommens von etwa 9 Milliarden Euro – Jahr für Jahr an Staatsleistungen und Subventionen vom Staat zu den Großkirchen transferiert werden. Eine Zahl, die im öffentlichen Diskurs ebenso fehlt wie in den immer klammer werdenden Sozialkassen. Die Zahlung von Bischofsgehältern mit (allgemeinen) Steuergeldern, gründend im sogenannten Reichsdeputationshauptschluss von 1803 (!), gehört dabei noch zu den vergleichsweise geringeren Posten.
Zudem stellt das üppige deutsche System von Staatskirchenverträgen nach Ansicht des Rechtswissenschaftlers Gerhard Czermak eine »Selbstentmachtung des Parlaments« dar, da diese Verträge weder eine Kündigungsklausel noch eine Befristung enthalten.
Eine solche Daueralimentierung fördert Opportunismus und Affirmation und kaum – womit sich die Kirche ja gern schmückt – die Verteidigung der Schwächsten gegen die Begehrlichkeiten von Staat und Kapital. Und wenn in den Reihen der Kirchenfürsten doch einmal der eine oder die andere beispielsweise wider den Stachel der Kriegsbeteiligung in Afghanistan löckt, geht ein Aufschrei der Empörung durch die politische Klasse.
Es war ein Diskutant aus dem Publikum, der bei der Veranstaltung in der Urania das treffende Fazit zog: »In Deutschland gibt es keine Staatskirche. Aber es gibt eine Kirche des Staates.«
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