Spätrömische Rituale
Der Zweikampf zwischen Westerwelle und Seehofer am Politischen Aschermittwoch blieb aus, dafür legt sich der FDP-Chef jetzt mit allen an
Der frühere Prätorianer und heutige Wanderprediger der CDU Heiner Geißler war es, der Westerwelles historischem Vergleich als erster etwas abgewinnen konnte. Ja, sagte Geißler, Westerwelle habe insoweit Recht mit der spätrömischen Dekadenz, als vor 100 Tagen ein Esel zum deutschen Außenminister gemacht worden sei.
Als Inspiration für einen Karnevalswagen der Mainzer und Kölner Faschingsumzüge kam die Anregung zu spät – sonst wäre Westerwelle dort wohl als Esel gelandet. Der Auftritt war ihm trotzdem sicher. Ihm und den anderen Parteigrößen. Am Mittwoch steuerte das närrische Treiben unweigerlich auf seinen Höhepunkt in Sachen Dekadenz zu, den politischen Aschermittwoch.
Die Schwachen vor den Faulen schützen
Die Topografie des Parteienterrors bringt historisch begründet die höchste Büttendichte in Bayern und Baden-Württemberg hervor. Horst Seehofer bei der CSU in Passau, SPD-Chef Sigmar Gabriel in Vilshofen, Cem Özdemir bei den Grünen in Landshut, der designierte Linksparteichef Klaus Ernst in Passau und Guido Westerwelle mit der FDP in Straubing. Etwas weiter entfernt warteten am Abend die Anhänger der LINKEN in Saarbrücken auf Oskar Lafontaine. Und faschingsgeografisch weitab vom Schuss, in beinahe demonstrativer Distanz zu den überfüllten Arenen, war die Bundeskanzlerin angekündigt. Seit Jahren schon tritt Angela Merkel zum Aschermittwoch in Demmin in Mecklenburg-Vorpommern vor eine vertraute Runde von Gleichgesinnten.
Wie in Heerlagern versammeln sich die Parteianhänger an jenem Tag um ihre Feldherren. Und diese kommen der allgemeinen Erwartung nach, frönen den Ritualen, nehmen huldvoll die Treueschwüre entgegen, den bedingungslosen Beifall des Fußvolks, das hauptsächlich für diese eine Rede angereist ist – ausgelassen, kampfesfreudig und gern auch besoffen. Die FDP hatte diesmal mit ungewohntem Andrang zu kämpfen. Einen wichtigen Grund hat das im Streit, der die Regierungskoalition seit Monaten begleitet. Die nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen verkündete Duzfreundschaft zwischen Westerwelle und CSU-Chef Horst Seehofer hat Kratzer erhalten. Seit die Christsozialen bemerkt haben, dass ihre zunächst mit der FDP gemeinsam vertretene Forderung nach Steuersenkungen, die die Wirtschaft entlasten sollen, mit der derzeitigen Haushaltslage nicht vereinbar ist, ist der Streit hinter den Koalitionstüren bereits mehrfach nach außen gedrungen. Nach den provokanten Äußerungen Westerwelles war ein neuer Höhepunkt zu erwarten. Und die Entfernung der Bundeskanzlerin von den spätrömischen Ritualen nährte den Eindruck, sie wolle diesen als den Hauptkontrahenten dieses Tages Platz machen. Streitthemen in der Dauerfehde zwischen FDP und CSU sind die Steuerreform, die Gesundheitspolitik und nun die Hartz-Reform, um nur die wichtigsten zu nennen. Und während sich wie in jedem Jahr die Legionen aller Parteien formierten, waren die Blicke der Öffentlichkeit vor allem nach Straubing gerichtet, dort, wo Westerwelle auftreten würde. Und nach Passau, wo Horst Seehofer erwartet wurde.
Westerwelle weicht nicht zurück. Er hat es inzwischen mit allen aufgenommen. Und das machte er am Mittwoch gleich zu Beginn seiner Rede deutlich. »Es mag mich der linke Zeitgeist kritisieren, ich bleibe dabei: Leistung muss sich lohnen, und wer arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet.« Westerwelle erinnerte an seine Rede vor einem Jahr, damals noch in der Peschl-Terrasse in Passau, einer Gaststätte, die knapp 300 Plätze bot. Eng sei gemütlich, hatte damals Westerwelle gesagt, in einer Bescheidenheit, von der ihm heute nichts mehr anzumerken ist. Vielleicht, so der FDP-Chef, habe das damals nicht jeder ernst genommen: »Aber wir haben einen Politikwechsel angekündigt.«
Die Frage, wie er den Lohnabstand zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten im Niedriglohnsektor sichern will, deutete er nur an. Deutlicher wurde er nur, wenn er sich erneut dem Thema der vermeintlichen spätrömischen Behaglichkeit in Arbeitslosenfamilien näherte. Die FDP wolle nur die Bedürftigen unterstützen, nicht die »Findigen«. »Wir schützen die Schwachen vor den Starken, aber wir schützen die Schwachen auch vor den Faulen.«
Traum vom Aufstieg, Angst vorm Abstieg
Immerhin, der Dauerkonflikt zwischen FDP und CSU erhielt am Mittwoch keine neue Nahrung. Und so groß sind sie dann wohl auch nicht, die Unterschiede. Seehofer am Mittwoch: Sozial sei es, Menschen zu helfen, »die wollen, aber nicht können – Sozial ist nicht, Menschen zu helfen, die können, aber nicht wollen.« Deutlicher noch als Westerwelle verzichtete Seehofer auf eine Fortsetzung des Zweikampfes mit närrischen Mitteln. Auch wenn er alle Register zog, auf die rot-roten Länderregierungen in Berlin und Brandenburg schimpfte wie auf den Finanzkapitalismus, auf die Türkei wie auf die »Chaoten«, die die Münchner Sicherheitskonferenz zu stören versucht hätten. Sein »Freund Guido« kam glimpflich weg. Ein wenig mehr Gelassenheit riet er ihm. Und auf eine der Warnungen »Westerwelles« in der jüngsten Zeit witzelte Seehofer: Die Alpen bebten und der Frankenwald erzittere. Doch kein Tsunami sei da gekommen, sondern »nur eine Westerwelle«.
Der FDP-Chef ist von der empfohlenen Gelassenheit weit entfernt. Er verwende nicht die Sprache einer Volkspartei, war ihm dieser Tage aus der CDU vorgehalten worden. Doch dies ist auch nicht sein Anspruch. Westerwelle vertritt die »Leistungsträger der Gesellschaft«, spricht von der »klassischen Mittelschicht mit kleinen und mittleren Einkommen, Träumen und Ängsten«. Eine nicht sehr genaue Definition. Westerwelles Zielgruppe ist eine schrumpfende: In den letzten elf Jahren seien fünf Millionen Menschen von dieser in die armutsgefährdete Schicht der Gesellschaft durchgereicht worden. Der Traum des Aufstiegs, die Angst vorm Abstieg sind es, die Westerwelles Mittelschicht umtreiben. Wenn es sich ausgeträumt hat, endet sein Interesse. Von der Familienförderung des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes, das der Vizekanzler wie CSU-Chef Seehofer der jeweils eigenen Partei zugute hielten, haben von Hartz IV Betroffene bekanntlich gar nichts.
Aus vielen Richtungen kam in den letzten Tagen der Widerspruch auf Westerwelles Sozialismuswarnungen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Hartz-IV-System. Selbst in den Reihen der Koalition geht dieser Satz manchem zu weit: »Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.«
»Linksradikal in der Birne«
Westerwelle ist längst nicht in der Position des Caligula, aber manches an ihm verführt zum Vergleich. Nicht nur die »Caligula«, Soldatenstiefelchen, die Gaius Caesar Augustus Germanicus, Herrscher in Rom, zum Namen wurden. Er soll in Kindertagen welche getragen oder mit den Stiefeln der Prätorianer gespielt haben, wie auch immer; Westerwelles militant vorgetragener Anspruch auf mehr Wählerstimmen fand vor Jahren seinen Tiefpunkt auf seinen Schuhsohlen, die er in die Kamera hielt – »18« war da als Zielmarke zu lesen. Der Caligula der FDP hat die 18 Prozent damals weit verfehlt, aber mit 14,6 Prozent bei der letzten Bundestagswahl erhielt sein Ego einen rasanten Schub. Er lebt dieses seither auch in der Koalition aus.
In der Geste des Alleinherrschers kündigte er am Mittwoch an, sich Kritik an FDP-Ministern künftig nicht mehr gefallen lassen zu wollen. Man müsse schon »linksradikal in der Birne sein«, wenn man ihm vorwerfe, mit den normalsten Forderungen der Welt im braunen Sumpf zu fischen. Er sei nur im Ausland zu diplomatischer Sprache verpflichtet, im Inland gehöre er dem »Verein zur klaren Aussprache« an.
Westerwelle befreite sich vom Frust der letzten Tage. Im Namen der Wahrheit. »Ich spreche nur aus, was alle Politiker wissen«, so der FDP-Chef. Diese fürchteten sich nur, weil sie meinten, das Volk wolle die Wahrheit nicht hören. Solche Formulierungen dürften bereits zu Zeiten Caligulas üblich gewesen sein. Eines wenigstens hat sich seither geändert. Das Risiko in der Politik ist geringer geworden. Caligula fiel einem Anschlag der Prätorianer zum Opfer.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.