Tage der Abrechnung
Kann Olympia eine Gesellschaft wie die kanadische verändern?
Die Hymnen auf die Sieger sind verklungen, der Müll der Feiern wird weggeräumt, von nun an prägt ein anderer Begriff: Legacy, Nachlass. Wie profitiert Vancouver von den Spielen?
»Ich glaube, dass die Kanadier Olympia als ein Ereignis in Erinnerung behalten werden, das dieses Land verändert hat«, sagte John Furlong, Präsident des Organisationskomitees VANOC. Pathetische Worte des Gastgebers, wie immer nach so einem Sportfest. Mehr als ein Dutzend Programme hat VANOC gestartet, um die Auswirkungen der Spiele zu konservieren, wirtschaftlich, kulturell, ökologisch. Können die Spiele tatsächlich eine Gesellschaft verändern?
Kosten, Umsatz, Gewinn: Niemand wird diese Zahlen aufs Komma beziffern können, da mögen die Organisatoren noch so tiefe Analysen ankündigen. Die Zeitung »Vancouver Sun« vermutet, dass die Spiele den Steuerzahler sechs Milliarden kanadische Dollar gekostet haben, 4,2 Milliarden Euro direkte und indirekte Leistungen. Zwei Drittel davon wurden für die Erweiterung der Schnellbahn, den Ausbau der Autobahn und das Kongresszentrum verwendet, davon wird Vancouver viele Jahre profitieren. Skeptisch sind viele Kanadier trotzdem, bis vor drei Jahren mussten sie noch die Schulden der Sommerspiele 1976 in Montreal ableisten. Und auch der Bau des Olympischen Dorfes in Vancouver stand kurz vor einem Stopp, weil die Kosten auf über eine halbe Milliarde Euro angestiegen waren. Nun warten alle gespannt auf die Rechnung.
Es ist keine Überraschung, dass Hotels, Restaurants, Autovermieter, Souvenirläden während der Spiele bis zu 200 Prozent mehr Umsatz erwirtschaften. Es ist nicht verwunderlich, dass die Ergebnisse von Modeausstattern, Elektroläden, Baumärkten in diesen 17 Tagen stagnieren oder zurückgehen. Die Winterspiele als Wachstumswunder zu vermarkten, ist so unglaubwürdig wie 2006, als die Deutschen ihre Fußball-WM als Weltrettung verklärten. Glaubhaft wird es speziell im Tourismus: »Wir erwarten für die nächsten sechs bis zwölf Monate enorme Zuwächse«, sagt Susan Iris von der Tourismusbehörde, die 18,2 Millionen Euro für Marketing ausgab: Um 100 Prozent seien Anfragen bei Reiseveranstaltern gestiegen.
Unternehmen hängen sich an den Schweif Olympias. »Sechs bis acht Vertragsverhandlungen sind in vollem Gange«, sagt Lee Malleau, die Direktorin für Wirtschaftsentwicklung im Großraum Vancouver. Für eine Million Euro hatte ihre Behörde ein Netzwerkprogramm für 100 nationale und internationale Investoren aufgelegt, der Ertrag soll ein Vielfaches betragen. Täglich berichteten die Zeitungen: Von einem italienischen Käsefabrikanten, der 1,5 Millionen Euro für Treffen mit Importeuren und Journalisten zahlte, oder von jenem kanadischen Juwelier, der 42 000 Geschenke verteilte, um populärer zu werden. Direktorin Lee Malleau: »Olympia ist für uns perfekte Plattform gewesen.«
Was soll sie auch anderes sagen? Mit den Investoren wächst die Konkurrenz, und mit der Konkurrenz steigen die hohen Immobilienpreise weiter. »Olympia ist schnell Geschichte, aber Armut und Obdachlosigkeit werden wachsen«, glaubt Harsha Walia von Human Rights. Nach wie vor gibt es 2000 Obdachlose in Vancouver. Die Organisatoren erwidern, dass zum Beispiel 200 Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen in Förderprogramme eingegliedert worden seien. Zudem sollen 1500 Betten des Athletendorfes künftig gemeinnützigen Organisationen dienen. Und auch die Erben der kanadischen Ureinwohner sollen von den Spielen profitieren, zwischen 14 und 21 Millionen Euro sollen die Zahlungen an die vier Olympia-beteiligten First Nations betragen. »Zum ersten Mal werden wir als Partner Kanadas angesehen«, sagte Tewanee Joseph, der Leiter der First Nations, auf einem Empfang.
Auch das ist typisch, sobald die Hymnen auf die Sieger verklungen sind: Niemand wird mit Gewissheit sagen können, ob es langfristig bei den Prognosen bleibt.
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