Die Katastrophe gärt im Graben
Auch mit seiner in Wien uraufgeführten »Medea« erweist Aribert Reimann sich als Meister der Literaturoper
Es gibt Zeiten, da kommt einem die Oper ziemlich alt vor. Nicht wegen des Publikums, sondern wegen der Stücke. Mit 100 ist eine Oper noch aufregend, mit 50 gilt sie als fast neu. Dann aber ballen sich, wie in den letzten Tagen, doch die Uraufführungen. Wenn München die etwas verquer getextete »Tragödie des Teufels« von Peter Eötvös herausbringt, setzt Wien mit gleich zwei Uraufführungen noch einen drauf. Zuerst hatte das rührige »Theater an der Wien« mit Johannes Kalitzkes Vertonung von Witold Gombrowiczs Kolportageroman »Die Besessenen« (1939) eine zumindest musikalisch lebendige Aufführung zu bieten. Die machte unter der Leitung des Komponisten mit dem Klangforum Wien aus dem eklektizistischen Parforceritt durch die Musikgeschichte und die Klangwelten der Gegenwart das Beste. Sie vergaloppierte sich aber szenisch durch Kaspar Holtens Verlegung der gruseligen Erbschleicher-Geschichte in einen Supermarkt. Immerhin war das der programmatische Auftakt einer Reihe, die künftig jedes Jahr eine Uraufführung bieten wird.
Diesmal freilich hat die Wiener Staatsoper ihrem jungen, bissigen Konkurrenten dann doch den Schneid abgekauft. Für die Uraufführungen, die Ioan Holender in den jetzt zu Ende gehenden, fast zwei Jahrzehnten seiner Staatsoperndirektion auf den Weg gebracht hat, reichen die Finger einer Hand. Mit der »Medea« allerdings dürfte er wohl nicht nur seinem eigenen Intendanten-Nachruhm, sondern auch dem Genre einen echten Dienst erwiesen haben. Das ging natürlich nur mit einem Komponisten vom Format des nun schon bald 74-jährigen Berliner Literaturopern-Spezialisten Aribert Reimann.
Ob nun sein »Lear« nach Shakespeare (1978), die »Gespenstersonate« nach Strindberg (1984), »Das Schloss« nach Kafka oder vor zehn Jahren seine Lorca-Oper »Bernarda Albas Haus«, in der sogar Inge Keller noch zu einem Operndebüt in späten Jahren kam – Reimanns Opern sind vital und (auch in Berlin) so präsent, wie die von kaum einem seiner Kollegen. Was neben offenkundiger Meisterschaft auch daran liegen mag, dass die literarische Vorlage für Reimann nicht nur Material, sondern Ausgangspunkt einer Geschichte ist. Und, dass er für Stimmen schreibt. Im günstigsten Falle für ganz konkrete. Den Lear etwa für Dietrich Fischer-Dieskau. Oder eben jetzt die Medea für Marlis Petersen. Die bewältigt diese ungemein herausfordernde Partie denn auch mit einer atemberaubenden Souveränität.
Reimann-Spezialist Michael Boder am Pult der Wiener Philharmoniker, die nicht den Hauch von Fremdeln mit der Moderne erkennen ließen, koordinierte präzise den permanenten Wechsel zwischen düsterem Katastrophen-Dräuen einer manchmal Strauss-satt auftragenden Opulenz und dem dramatisch aufgeladenen Konversationston, der bei diesem exquisiten Ensemble nicht nur puren Stimmgenuss bot, sondern auch ein Muster an Verständlichkeit. Ob nun die unheimliche Gora (Elisabeth Kulman) an Medeas Seite oder Jason (Adrian Eröd), für den sie alle Brücken ins heimatliche Kolchis abbricht. Ob nun der drängende König Kreon (Michael Roider) oder dessen zwischen blond und verschlagen trällernde Tochter Kreusa (Michaela Selinger), ob der mit seiner Racheforderung auftauchende Herold (mit Counter-Verve: Max Emanuel Cencic) – es ist ein Fest der Stimmen.
So weit wie Christa Wolf schlagen sich Franz Grillparzer und der für sein eigenes Libretto von dessen Textvariante profitierende Reimann zwar nicht auf die Seite Medeas. Aber dass bei Medeas und Jasons Asylbitte in Korinth zwei Kulturen aufeinandertreffen, die sich verständnislos gegenüberstehen und im Grunde beide nur die Anpassung der einen an die andere erwarten, das wird auch hier deutlich. Und dass Jason durch seinen allzu widerstandslosen Wechsel der Seiten – ein Verrat an Medea, der nur nach Anlässen für den Vollzug sucht – zu jener Demütigung und Verzweiflung beträgt, die zum Mord an der Rivalin Kreusa und ihren eigenen Kindern führt, wird selbst in Marco Arturo Marellis eher harmlos arrangierenden Regie deutlich.
Als sein eigener Bühnenbildner ist Marelli da schon treffsicherer. Die wilde Gerölllandschaft, die es durch unmerkliches Ankippen des Bodens sogar zu einer kleinen Lawine bringt, der modernistisch damit kontrastierende Glas-Palast-Kubus in der Höhe – das gibt der bezwingenden Musik Reimanns einen überzeugenden Raum. Dass Marelli in dem eher als konservativ geltenden Opernhaus im Anschluss an die Premiere für seine neun dortigen Inszenierungen zum Ehrenmitglied der Staatsoper ernannt wurde, kommt nicht von ungefähr. Bei Uraufführungen ist gegen interpretatorische Zurückhaltung allerdings auch wenig zu sagen. Die vielen deutschen Intendanten, die sich diesmal in Wien die Ehre gaben, werden wohl eh wegen Reimann gekommen sein.
Nächste Vorstellungen: 6., 9., 12.3.
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