Konnten Sie Akzente setzen?

Katja Kipping über die ersten einhundert Tage als Vorsitzende des Arbeits- und Sozialausschusses

  • Lesedauer: 4 Min.

ND: Die ersten einhundert Tage als Vorsitzende eines Bundestagsausschusses liegen hinter Ihnen. Haben sich die Mitglieder von Union und FDP schon an eine Chefin von der LINKEN gewöhnt?
Kipping: Ich glaube, sie haben den ersten Schock überwunden. Nein, im Ernst: Laut Geschäftsordnung kann auch ich als Ausschussvorsitzende nicht die Beschlüsse der Mehrheit überstimmen, insofern dürften sich die Sorgen der Schwarz-Gelben in Grenzen gehalten haben

Konnten Sie trotzdem Akzente setzen?
Ja, ich denke schon. Auf dem Höhepunkt der Dekadenz-Debatte habe ich bewusst gesagt, anstatt über Erwerbslose zu reden, sollten wir lieber mit ihnen reden. Deswegen habe ich als erste offizielle Gäste die Vertreter des Hartz-IV-Sanktionsmoratoriums empfangen. Zudem habe ich erfolgreich angeregt, dass der Ausschuss nun dreimal im Jahr die so genannten EU-Frühwarnberichte diskutiert. Da geht es um sozialpolitische Initiativen, die gegenwärtig auf EU-Ebene anstehen. Bisher war es eher so, dass wir über europapolitische Vorlagen gesprochen haben, wenn schon alle Messen gesungen waren. Jetzt befasst sich der Ausschuss mit diesen Vorlagen, wenn noch Einfluss genommen werden kann.

Ist der Spielraum für Kompromisse im Ausschuss größer als im Parlament?
Es gibt einzelne Themen, bei denen im Ausschuss eine gewisse Bereitschaft besteht, sich übergreifend darüber zu verständigen. Also zum Beispiel haben wir einvernehmlich beschlossen, zum Bericht zur Lage der Menschen mit Behinderung eine Sachverständigen-Anhörung durchzuführen. Der Ausschuss bietet zudem den Vorteil, dass man der Regierung gelegentlich in einzelnen Fachfragen auch Anregungen und Empfehlungen mit auf den Weg geben kann. Aber der Ausschuss ist vor allem der Ort, an dem die unterschiedlichen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Vorstellungen kontrovers ausgetragen werden, vor allem beim Thema Hartz IV. Diese Woche beispielsweise haben wir Anträge zur Altersteilzeit behandelt. Während SPD und LINKE für die weitere Finanzierung dieses Instrumentes sind, sahen die anderen Fraktionen darin eher ein Instrument zur Frühverrentung.

Jedem Ständigen Ausschuss des Bundestages steht ein Ministerium gegenüber. In ihrem Fall ist es das Bundesarbeitsministerium. Gibt es regelmäßige Kontakte zur Ressortleiterin Ursula von der Leyen (CDU)?
Die Ministerin wird zu besonderen Anlässen in den Ausschuss geladen, ansonsten ist bei jeder Sitzung ein Staatssekretär anwesend. Wir als Ausschuss haben Frau von der Leyen zu Beginn ihrer Amtseinführung eingeladen und auch direkt nach dem Urteil zu den Hartz- IV-Regelsätzen. Da hat die Opposition sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass nicht nur Kinder-Regelsätze nachgebessert werden müssen, sondern auch die Regelsätze für Erwachsene. Das Urteil aus Karlsruhe umfasst ja auch die Grundaussage, dass das menschenwürdige Existenzminimum ein Grundrecht ist. Vor diesem Hintergrund sind Sanktionen, die das Existenzminimum kürzen, fragwürdig. Ebenso wie die Regelungen zu Bedarfsgemeinschaften zwischen unverheirateten Paaren.

Die Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze soll nicht vor Herbst erfolgen. Bleibt da überhaupt noch Zeit, eventuelle Nachbesserungen zu diskutieren. Schließlich müssen die Regelsätze bis Jahresende feststehen?
Die Opposition hat im Ausschuss sehr deutlich eingefordert, dass sich die Bundesregierung beeilen möge. Zumal der Paritätische Wohlfahrtsverband zeigt, dass es schneller geht, und bereits im Frühjahr eine eigene Neuberechnung der Regelsätze präsentieren will.

Die Sätze dürfen nicht einfach geschätzt werden. Es muss vielmehr ein transparentes Verfahren geben – auch auf der Ebene der Gesetzesinitiative und nicht einfach nur auf der Verordnungsebene. Denn Verordnungen kann die Regierung unter sich ausmachen. Insofern setze auch ich mich im Ausschuss dafür ein, dass es dazu ein transparentes Verfahren gibt.

Ein erster Testlauf ist der Härtefallkatalog für Hartz-IV-Betroffene. Die Bundesregierung hat diesen Katalog für Sonderbedarfe sehr eng gefasst und viele Fälle außen vor gelassen. Kann der Ausschuss Druck machen, damit weitere Betroffenengruppen aufgenommen werden?
Es widerspräche dem Geist des Karlsruher Urteils, wenn die Regierung den Katalog auf wenige Fälle beschränken würde. Die ganze Diskussion ist Schwarz-Gelb wohl unangenehm. Deshalb wurde versucht, den Härtefall-Katalog in einem anderen Gesetzesvorhaben, in dem es um die Stabilisierung der Sozialversicherungen geht, schnell unterzubringen. Damit hätte man dem Sozialausschuss die Zuständigkeit entzogen. Das hat die Opposition gemeinsam verhindert. Ich werde mich dafür einsetzen, dass es dazu eine Anhörung mit verschiedenen Betroffeneninitiativen und Wohlfahrtsverbänden geben wird.

Fragen: Fabian Lambeck

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