Geschockt sind nur die Eltern
ARD: »Keine Angst«
Der Abschaltimpuls ist ein gefürchtetes Gefühl in Fernsehland. Hat der Zuschauer abgeschaltet, senkt er statistisch die Einschaltquote, dadurch praktisch die Werbewirkung, aufs Ganze gesehen selbst in der reklamefreien Zeit faktisch die Senderumsätze und ist folglich aus betriebswirtschaftlicher Sicht: nutzlos.
So gesehen tut die Ostberliner Regisseurin Aelrun Goette der ARD mit ihrem Sozialdrama »Keine Angst« am Mittwoch keinen Gefallen. Selbst, wenn die fiktive Geschichte der 14-jährigen Becky mit alleinerziehender Mutter im Hartz-IV-Milieu ein großes Publikum findet. Denn zur besten Sendezeit sind darin nicht nur unverdauliche Elemente sozialer Verwahrlosung am Brennpunkt von Armut bis Alkoholismus zu beobachten, sondern auch zwei Szenen schier unerträglich gewaltsamer Sexualität: Beckys Vergewaltigung durch ihren Stiefvater, vor den Augen der drei kleinen Geschwister; und die ihrer besten Freundin durch deren Jugendclique, zwischen Plattenbau und Wodkaflachen. Beide Momente sind vergleichsweise kurz und die Kameraeinstellungen eher angedeutet als fokussiert, aber doch spürbar, hörbar, sichtbar. Wenn das nicht zum Abschalten anregt ...
Stellt sich die Frage: Muss man das wirklich zeigen? »Warum nicht?«, antwortet der Filmkritiker Josef Lederle. Solang das Verhältnis von dramaturgischer Notwendigkeit, inhaltlicher Reflexion und ästhetischem Anspruch gewahrt bleibe, »kommt Drastik der Wahrheit näher als elliptisches Drumherumerzählen«, so der Experte aus Köln. Solange Sexualität, Gewalt in einem Kontext erzählt werden, seien Abschaltimpulse sogar erstrebenswert. »Ziel erreicht«, urteilt Lederle, der bei der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) selbst lange jugendgefährdende Medien beanstandete. Problematischer wäre es doch, würde körperliche Nötigung nur abgestumpft zur Kenntnis genommen. Dann doch lieber offener Missmut per Griff zur Fernbedienung.
Die Frage des Erträglichen ist also zuerst eine der Perspektive. Und die stimmt bei Goette, die schon in der Dokumentation »Die Kinder sind tot« über eine Mutter aus Frankfurt (Oder), die ihre zwei Söhne verdursten ließ, das Dramatische des Elends preisgekrönt verarbeitet hat. »Ich schaue ja nicht auf die Welt rauf«, sagt sie, »sondern aus ihr raus.« Der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag sieht vor, Heranwachsende vor gewaltverherrlichende Darstellungen zu schützen. Im Fall von »Keine Angst« ist das medienjuristisch offenbar unnötig. Schließlich darf der Film bereits um 20.15 Uhr auf ein Publikum ab zwölf Jahren treffen. Zu jung, um die Radikalität richtig einzuordnen? Unsinn, sagt Goette. Wann immer »Keine Angst« vor Schülern gezeigt wird, herrscht gelassene Empathie. »Schockiert sind nur die Eltern.«
ARD, Mittwoch, 20.15 Uhr.
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