Hilfe für Haiti: Was kommt an?
Sieben Wochen nach dem Beben wächst die Unzufriedenheit
Naomi Charles ist wütend. Sie sitzt vor ihrem provisorischen Wohnzelt auf dem Zentralplatz von Canapé Vert, einem Vorort von Port-au-Prince, und schimpft auf die Regierung. »Von Hilfe keine Spur. Die Regierung hat uns vorher nicht geholfen und jetzt schon gar nicht«, sagt die 50-Jährige mit bitterem Unterton. Auch die umstehenden Frauen und Männer lachen nur amüsiert über die Frage nach der Unterstützung für die Erdbebenopfer durch die haitianische Regierung.
Präsident Préval bleibt unsichtbar
Rund 800 Obdachlose drängen sich in dem Dreieck neben der Polizeistation und dem Hôpital du Canapé Vert. Die Mehrzahl kommt wie Charles aus der näheren Umgebung des Parkgeländes, das jetzt zur Wohnsiedlung für jene geworden ist, deren Häuser bei dem Erdbeben von der Stärke sieben auf der offenen Richterskala am 12. Januar völlig zerstört oder schwer beschädigt wurden.
Keine 100 Meter weiter liegt die bewachte Einfahrt zum Grundstück von René Préval. Aber der haitianische Staatspräsident hat sich, wie alle einhellig sagen, seither bei seinen Nachbarn nicht sehen lassen. Er residiert abgeschieden in einer Polizeikaserne in der Nähe des Flughafens.
»Wenigstens haben sie nach einer Woche Toiletten anfahren lassen«, sagt Nachbarin Alexandra Jean und zeigt auf ein Dutzend grauer und blauer Klohäuschen, vor denen Frauen Schlange stehen und die noch aus der Entfernung impertinent stinken. »Aber sie haben sie nicht mehr geleert.« Es gibt nur wenige Wasserstellen für das Camp. Allen ist die Hilfe, die kommt, zu wenig.
Das Zentrum des Erdbebens lag rund 25 Kilometer südwestlich von Port-au-Prince in einer Tiefe von rund 17 Kilometern und hat nach Informationen des UN-Büros für humanitäre Angelegenheiten (OCHA) mindestens 223 000 Menschen in den Tod gerissen. Staatspräsident Préval befürchtet sogar, dass deren Zahl noch auf 300 000 steigen könnte.
Etwa 311 000 Menschen wurden nach offiziellen Statistiken verletzt. Die Dunkelziffer liegt wesentlich höher. Tausenden von Verletzten mussten Gliedmaßen amputiert werden, Ungezählte sind querschnittsgelähmt. Die Zahl der direkt vom Erdbeben Betroffenen beträgt 3 Millionen, mehr als 1,5 Millionen verloren Hab und Gut. In Port-au-Prince wurden 97 294 Gebäude völlig zerstört, im ganzen Land wurden eine halbe Million Häuser zum Teil schwer beschädigt. Die Provinzstädte Léogâne und Petit Goâve im Südwesten sind zu 70 bis 80 Prozent zerstört. In der südlichen Hafenstadt Jacmel sind drei Viertel aller Häuser kaputt.
In Port-au-Prince gibt es inzwischen 420 öffentliche Plätze oder Freiflächen, so schätzt OCHA, die sich in provisorische Lager für die mehr als eine halbe Million städtischen Obdachlosen verwandelt haben. Dazu kommen noch ungezählte kleinere Zeltstädte, die auf den Straßen vor allem vor den Privathäusern der Betroffenen errichtet wurden. Auch in Léogâne, Petit Goâve und Jacmel sind seit der Erdbebenkatastrophe Hunderte von Notunterkünften entstanden.
Mehr Hungrige an jedem Tisch
Etwa 600 000 Menschen, die ihre Häuser verloren haben, sind aus der Katastrophenregion weggezogen und wohnen bei Verwandten auf dem Land. »Jetzt müssen wir auch noch für die Ernährungssicherung der Obdachlosen in abgelegenen Regionen des Landes sorgen, die aufgrund der schlechten Straßenverhältnisse nur schwer zu erreichen sind«, klagt Richard, ein UN-Logistikspezialist, der aber keine offizielle Auskunft erteilen darf. »Wo früher fünf am Tisch saßen – und da war die Ernährungssituation schon schlecht –, müssen sich jetzt zehn bis zwölf Personen das Essen teilen.«
Früher hat Madame Charles auf der Straße Süßigkeiten verkauft. Umgerechnet 56 Euro hat sie damit im Monat verdient, gerade genug, um die Miete fürs Haus, das Schulgeld und das tägliche warme Essen zu bezahlen. »Jetzt bin ich darauf angewiesen, dass meine Nachbarn mit mir teilen, was sie haben.« Naomi Charles ist eine von rund sieben Millionen Haitianern – insgesamt hat das Land neun Millionen Einwohner –, die schon vor dem Erdbeben von weniger als zwei Dollar am Tag leben mussten und jetzt völlig auf ausländische Hilfe angewiesen sind. Von ihrem Staat kann die Bevölkerung derzeit kaum Unterstützung erwarten. Mit Ausnahme des Erziehungsministeriums sind sämtliche Ministerien des Landes bei der Erderschütterung in sich zusammengefallen oder so schwer beschädigt worden, dass sie abgerissen werden müssen. Die Verwaltung ist lahmgelegt.
Die Regierung tagt zwar permanent in ihrem provisorischen Amtssitz in der Nähe des Flughafens, aber sonst ist wenig von ihr zu hören. Nur wenn Préval klagt, dass die internationale Hilfe nicht mit seiner Regierung koordiniert und »an ihr vorbei organisiert« werde, macht der haitianische Staatspräsident noch Schlagzeilen. »Es ist verheerend«, sagt eine ehemalige Weggefährtin.
»In der Stunde der Not, wo Haiti jemanden braucht, der Handlungsinitiative zeigt, der der Bevölkerung Mut zuspricht und mit seinem Beispiel beim Aufbau des Landes vorangeht, ist Préval fast abgetaucht.«
Lebensmittel gibt es, kaufen kann sie keiner
Das Land braucht Gelände für weitere Notlager außerhalb der Stadt. Die Regierung berät schon seit Wochen darüber, fasst aber keine Beschlüsse. Freiflächen müssten konfisziert werden, aber Préval scheut den Streit mit den Besitzern, auch aus seinem Freundeskreis. Die Zustimmung für Préval, die in den Monaten vor dem Erdbeben schon merklich zurückgegangen war, nimmt immer weiter ab. An Mauern in der zerstörten Innenstadt machen sich schon die ersten Haitianer mit Sprühparolen Luft: »Weg mit Préval!«
Trotzdem funktioniert die Hilfsmaschinerie inzwischen fast perfekt. Tonnen um Tonnen werden aus Transportmaschinen auf dem Internationalen Flughafen Toussaint Louverture entladen. Daneben haben die Vereinten Nationen in der benachbarten Dominikanischen Republik eine Logistikbasis eingerichtet, von wo aus jeden Tag Hunderte von Lastwagen nach Haiti mit Hilfsgütern und Nahrungsmitteln rollen. Täglich transportieren Tankwagen aufbereitetes Trinkwasser in die Obdachlosenlager, und regelmäßig werden den Betroffenen Lebensmittelrationen angeliefert: Für eine fünfköpfige Familie gibt es pro Woche 22,5 Kilogramm Reis, 4,5 Kilogramm Bohnen, knapp 2 Liter Öl und Salz.
Eigentlich gibt es auch ohnedies genügend Lebensmittel auf den Straßen zu kaufen. Händlerinnen preisen lautstark Reis und Bohnen an, bieten dem Käufer Gemüse und Obst, das aus dem Hinterland der Hauptstadt täglich frisch geliefert wird. Und auch Fleisch wird an den ambulanten Verkaufstischen am Straßenrand angeboten. »Das Problem ist, dass die Menschen kein Geld haben«, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Kesner Pharel. Die Mehrzahl der Haitianer ist schon seit Jahren auf die Unterstützung der im Ausland lebenden Landsleute angewiesen, die jedes Jahr rund zwei Milliarden Dollar nach Haiti überweisen.
»Wenn das Geld aus der Ernte nicht mehr reicht, muss ich mich als Tagelöhner verdingen«, erzählt Charlot Ambrase in La Font, nahe dem Weiler Les Palmes. Der 62-Jährige Landwirt steht mit seiner Frau Polene vor einem Haufen Steine.
»Das waren mal die Wände meines Hauses«, sagt er. Bei dem Beben hat er nicht nur seine einzige Kuh und sein Maultier verloren, sondern auch das Saatgut, mit dem er im Regenmonat März seine Felder bestellen wollte. »Ohne Hilfe werde ich es in diesem Jahr nicht schaffen«, sagte Charlot Ambrase.
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