Schwierigkeiten mit dem Programm
Auftakt einer ND-Serie »Offene Fragen der Linken«
Wann ist eine linke Partei reif für eine Programmdebatte? Ganz am Anfang, wenn nach der Neugründung das Licht des neuen Tages durch die Fenster strömt und Aufbruchstimmung das Herz erwärmt? Oder wenn alles erreicht ist? Sofern weder das eine noch das andere zutrifft, stoßen sich Programmfragen und Realitäten des politischen Alltagsgeschäfts oft im Raum. Zugleich sind Programmfragen immer auch Politik- und Machtfragen – in der Partei und in der Gesellschaft. Damit sind sie aber nicht in erster Linie Theoriefragen.
Ein historischer Blick
1875 waren die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP, Eisenacher) und der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV, Lassalleaner) übereingekommen, beide Parteien zu vereinigen. Gemeinsame Arbeiterversammlungen forderten die Vereinigung. Eine Vorkonferenz von je neun Vertretern beider Seiten traf sich im Februar in Gotha, um die Entwürfe für Programm und Statut zu erarbeiten, die am 7. März 1875 veröffentlicht wurden. August Bebel, der im Gefängnis saß, sah sich übergangen und erklärte sich nicht einverstanden. Marx und Engels, die ebenfalls nicht einbezogen waren, wurden um Stellungnahme gebeten. Ergebnis waren ein Brief von Engels an Bebel vom März und Marxens berühmte »Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei« vom Mai 1875. Darin warfen beide den Programmschreibern vor, wichtige Positionen, die die SDAP bereits gehabt hatte, aufgegeben zu haben zugunsten der Einheit, räumten aber ein: »Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme« (Marx), bzw. »Im allgemeinen kommt es weniger auf das offizielle Programm einer Partei an, als auf das, was sie tut« (Engels).
Anders, als man aus heutiger Sicht erwarten sollte, wurden die Kritiken nicht lauthals in die politische Arena gebracht – das hätte den realen Vereinigungsprozess zur neuen gemeinsamen Arbeiterpartei stören können. Statt dessen kursierten sie nur in engstem Kreise; Marx' Kritik wurde wunschgemäß an diesen zurückgesandt. Erst nachdem mit dem Fall des Sozialisten-Gesetzes eine neue politische Situation entstand und auf dem Hallenser Parteitag der Sozialdemokratie 1890 beschlossen worden war, ein neues Parteiprogramm zu erarbeiten, publizierte Engels Anfang 1891 Marx' Randglossen als Beitrag zur nun folgenden Programmdebatte. Engels' Brief veröffentlichte Bebel in seinem autobiographischen Buch »Aus meinem Leben« 1911.
Die Hauptakteure damals wussten, dass sie sich im Raum der Politik in einer Welt des Meinens befinden, in der auch die Anhängerschaft und die Wähler mehrheitlich nicht auf Grund wissenschaftlicher Wahrheiten, sondern wegen ihrer Einstellung die sozialistische Partei unterstützen. Insofern waren Kritiken, es sei mit den Lassalleanern falsch verhandelt worden, solche an die Adresse der Parteiführung, nicht an die der Mitglieder; und Kritik am Programmentwurf hätte politisch gegen die Einheit gewirkt. Es war folgerichtig, die Kritiken in der Schublade verschwinden zu lassen, bis die realen politischen Auseinandersetzungen ihrer wieder bedurften.
Linke Eigenheiten
Vor etlichen Jahren referierte Wolfgang Schäuble aus der Sicht des damaligen Verhandlungsführers der Bundesrepublik gegenüber der DDR über die deutsche Einheit. Auf den Hinweis, die Schubladen seien doch leer gewesen, entgegnete er: »Aber wir wussten doch, was wir wollten«. Und so wurde die Einheit gemacht: Entindustrialisierung statt »blühender Landschaften«, dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit und anhaltende Abwanderung aus dem Osten. Nutznießer waren die Kapitaleigner aus dem Westen. Bei der Aufteilung des Produktivvermögens der DDR gingen 85 Prozent an westdeutsche Bewerber und neun Prozent an Interessenten aus dem Ausland; nur sechs Prozent an solche aus dem Osten. Dies ist die Eigenart jeder rechten bzw. bürgerlichen Politik. Liberal-parlamentarische Verhältnisse vorausgesetzt, ist bei bürgerlichen Parteien der geistige Gehalt von Parteiprogrammen von deklaratorischem Rang; niemand erwartet von der CDU eine Politik der »Solidarität« und »Gerechtigkeit«, obgleich das in ihrem Programm steht.
Bei einer linken Partei dagegen ist das Parteiprogramm auf eine grundsätzlichere Weise Frage der politischen Orientierung, die mit weltanschaulichen Positionen und Identitätsbestimmungen zu tun hat. Das politisch zu vertretende Interesse selbst muss über einen theoretischen und politischen Reflexionsprozess identifiziert, definiert und begründet werden. Das führt zu einer oft unnötigen Zuspitzung. Manche Diskutanten sehen in dem anderen nicht den Genossen an der Seite, der diese oder jene Frage anders bewertet, sondern den »Abweichler« oder »Verräter«, dessen falsche Position die Partei bedrohe. Jene, die lautstark von neuen theoretischen Herangehensweisen reden, meinen oft milde Absolution für angepasstes Alltagshandeln; selbsternannte Parteitheoretiker verweisen auf jenen Alltag, und meinen recht eigentlich, dass nur ihre ureigene Idee, wenn sie die Partei ergreift, auch die Weltgeschichte retten werde.
Wenn das zusammenkommt, führen Programmdebatten zu Gezänk, Wortklaubereien, Türenknallen, gegenseitigen Unterstellungen, Parteiaustritten und Plattformbildungen »in großer Sorge«. Das hat sich die PDS zweimal geleistet und sollte jetzt nicht wiederholt werden. Aufrichtiges Herangehen an theoretisch-politische Fragen und gegenseitiges Grundvertrauen sind unverzichtbar. Die jetzige Programmdiskussion der LINKEN kann gelingen, indem sie an die politischen Erfolge der vergangenen Jahre anknüpft und die Erfahrungen des politischen Neuansatzes in theoretisch fundierte und politisch relevante Positionierungen überträgt.
Theorie und Geschichte
Zuweilen taucht der Vorwurf auf, politischer Pluralismus der LINKEN sei möglich, theoretischer nicht. Hier kommt die alte, bereits auf Marx zurückgehende Position zum Ausdruck, es gäbe so etwas wie die eine Wahrheit, aus der dann eine richtige, »wissenschaftlich begründete« Politik abgeleitet werden könne. So fand eine Metamorphose statt: Aus den gesellschaftskritischen, streitbaren Ideen von Karl Marx machten Friedrich Engels und die Führer der alten Sozialdemokratie den »Marxismus« der Arbeiterbewegung. War dieser innerparteilich und gesellschaftspolitisch noch demokratisch angelegt, so formte Lenin daraus den Bolschewismus, der mit dem Prinzip des »demokratischen Zentralismus« die Partei zu einer quasi-militärischen Kampforganisation machte. Stalin nannte dies dann »Leninismus« und trennte die kommunistische Ideologie in der mit seinem Namen verbundenen Variante komplett von ihren demokratischen Wurzeln.
Jeder Schritt dieser Metamorphosen ist bewusst vollzogen worden. Es gab natürlich jeweils andere Möglichkeiten des Theorie- und Politikverständnisses. Die gesamte Geschichte des Parteimarxismus ist auch eine Geschichte von Parteigerichten, der Verfolgung Andersdenkender und von Abspaltungen. Deren Erbe, wie das von Rosa Luxemburg, Paul Levi, Trotzki und Gramsci, wurde bewusst in die Tradition gestellt, auf die die PDS sich bezog.
Außerdem waren feministische oder postkoloniale Gesellschaftskritik nicht mit herkömmlicher marxistischer Klassen- oder Kapitalanalyse in eins zu setzen; »bürgerliche Fachwissenschaften« und sozialdemokratische Traditionen waren in den Blick zu nehmen.
Vor diesem Hintergrund bedeutete das Ende der Partei als sozialistische Staatspartei nicht nur den Bruch mit dem Stalinismus als Herrschafts- und Denksystem und mit dem Leninschen (oder Trotzkischen) Verständnis der Avantgarde-Partei, sondern auch den Bruch mit dem bereits auf Marx zurückgehenden Politikverständnis als angewandte Wissenschaft. Der Pluralismus der PDS nach 1989 war die Konsequenz. Und der konnte von Anfang an nicht nur ein politischer, sondern musste auch theoretischer und weltanschaulicher Pluralismus sein. Die Vereinigung mit der WASG hat den pluralen Charakter der neuen Partei nicht verengt, sondern erweitert.
Parteipolitisches
Die Politikwissenschaft hat das Entstehen politischer Parteien entlang von historischen Konflikt- bzw. Bruchlinien erklärt. In Europa waren Industrialisierung, Nationwerdung, Säkularisation und die Ausdehnung des Wahlrechtes auf immer größere Teile der erwachsenen Bevölkerung bestimmend. Die traditionellen Parteien, von den konservativen über liberale, christlich-demokratische und Parteien nationaler, kultureller oder religiöser Minderheiten sowie Bauernparteien bis hin zu den sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Parteien lassen sich anhand dieser interessenkonstituierenden Konfliktlinien sozialhistorisch erklären. Zusätzlich wurde in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ein »Wertewandel« von eher traditionellen bzw. »materialistischen« Werten hin zu »postmaterialistischen« ausgemacht. Dies meint kulturelle, soziale, schließlich intellektuelle Bedürfnisse und deren Befriedigung, die allerdings stets befriedigte physiologische und physische Bedürfnisse voraussetzt. Von daher wurde dann das Aufkommen der Grünen Parteien in Europa erklärt.
Innerhalb des »sozialistischen Lagers« (so der Politikwissenschaftler Karl Rohe) hatte sich im Gefolge des ersten Weltkrieges zusätzlich eine Bruchlinie Reformismus versus Revolutionarismus ausgebildet, die die Ausdifferenzierung von sozialdemokratischen Parteien einerseits und kommunistischen andererseits zur Folge hatte. Diese war mit dem Ende des Realsozialismus 1989 historisch erledigt. Die Sozialdemokratie unter Schröder hatte jedoch die regierende SPD mittig positioniert und ihre Ende der 1990er Jahre noch vorhandene soziale und politische Basis in erheblichem Maße verstoßen. Durch Agenda 2010 und »Hartz-Gesetze« wurde versäumt, die politische Koalition mit den früheren Wählersegmenten zu erneuern. Es kam eine neue politische Bruchlinie hinzu, Neoliberalismus versus Soziale Verantwortung, entlang derer sich DIE LINKE ausformte. Damit haben wir es mit einer neuen Spaltung innerhalb des »sozialistischen Lagers« zu tun.
Klassenlagen und materielle Interessen setzen sich nicht eins zu eins in Parteipräferenzen und Wählerverhalten um. Sie bedürfen der Interpretation, die als Sinn- und Deutungsangebote zu Tage treten. Dabei dienen Parteiprogramme eher der Integration der Parteimitglieder, so die Politikwissenschaft, als der Mobilisierung der Wähler, die besonders auf den symbolischen Gehalt der Politik reagieren – was die Partei tut und noch stärker, was sie nie tun wird. Insofern sind unterschiedliche Politikansätze innerhalb der Partei in der Bildungspolitik oder Sozialpolitik möglich, hinsichtlich des Verkaufs der Wohnungen einer ganzen Stadt oder von Kriegseinsätzen der Bundeswehr aber nicht. Hier schließt sich der Kreis zwischen Programm und Tagespolitik: das Parteiprogramm muss der praktischen Politik Orientierung geben, ohne dass es über oder neben der Politik steht.
Das macht auch den Unterschied aus zwischen dem, was die Programmdebatte der Partei zu leisten hat, und dem, was das »Institut Solidarische Moderne« und andere Cross-Over-Projekte zwischen LINKER, SPD und Grünen wollen. Letztere wollen ausloten, welche inhaltlich-politischen Vorhaben möglich sein können in einer bundespolitischen Konstellation diesseits von Schwarz-Gelb. Die Programmdebatte dagegen zielt darauf, nicht nur konkrete Politikansätze, sondern das gesellschaftspolitische Gesamtziel und die Identität der LINKEN längerfristig zu bestimmen. Diese vorauseilend auf den geistig-politischen Zustand der derzeitigen SPD trimmen zu wollen, von der niemand weiß, in welchem Zustand sie 2013 oder 2017 ist, würde die historische und programmatische Selbstaufgabe der LINKEN bedeuten.
Diese ist aber nicht entstanden, weil sie sich selbst braucht, sondern weil dieses Land eine solche Partei braucht. Je stärker die eigene Identität und Programmatik ausgeprägt ist, um so selbstbewusster lässt sich auch über mögliche alternative Regierungsprojekte reden. Auf Knien lässt sich der Neoliberalismus zwar bejammern, bekämpfen dagegen nicht.
Nächster Montag: Michael Brie Sechs Offene Fragen
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