• Kultur
  • Beilage zur Leipziger Buchmesse

Das Neue

LATEINAMERIKA

  • Helge Buttkereit
  • Lesedauer: 4 Min.

Lateinamerika ist wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Gerade für die Linke. Die Entwicklungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador, sowie in gewisser Weise auch in Uruguay, Paraguay und Brasilien wecken Hoffnungen auf ein Ende der neoliberalen Dominanz zumindest in einem Teil der Welt. Um aber Bedingungen, Grenzen und Chancen der linken Bewegungen zu verstehen, muss man sich zumindest in Grundzügen mit der Geschichte des Kontinents beschäftigen. Insbesondere mit der Ökonomie. Jörg Roesler liefert einen Überblick über mehr als 200 Jahre und gut zwei Duzend Staaten. Trotz der Faktenfülle verläuft er sich nicht; es gelingt ihm, insbesondere Studenten und interessierte Laien gut in das Thema einzuführen.

Der Inhalt des Buches überzeugt mit seiner guten Gliederung. Überblicksabschnitte werden durch Fallbeispiele vertieft, die die allgemeinen Aussagen klarer machen. Jörg Roesler setzt vor der Unabhängigkeit an und beschreibt mit knappen Worten die Wirtschaftspolitik der Eroberer des Kontinents, die in gewisser Weise auch nach der Unabhängigkeit übernommen wurde. Rohstoffe exportieren, Fertigwaren importieren war bis in die 1930er Jahre das Paradigma, genannt Export-Import-System. Aber zunächst nicht überall. Gerade die gescheiterten Versuche von unabhängiger Entwicklung, die Roesler in Paraguay, Argentinien und Mexiko nach der Unabhängigkeit beschreibt, lassen die Geschichte besser verstehen.

Der Fall Paraguay ist dabei paradigmatisch. An ihm lässt sich das ganze Problem der Entwicklung der Peripherie beispielhaft exerzieren. Er liefert, auch wenn er weit zurück liegt, einen Schlüssel zum Verständnis des Ganzen. Die politische Führung des Landes hatte sich nach der Unabhängigkeit 1811 die Abgeschiedenheit des Binnenlands zu Nutze gemacht und auf den Aufbau eines eigenen Marktes gesetzt. Mit Erfolg. Die Einwohner litten keinen Hunger, konnten lesen und schreiben, und die Finanzen des Landes waren in Ordnung. Eine Tripleallianz aus Brasilien, Argentinien und Uruguay – allesamt durch das Export-Import-System von der Weltmacht Großbritannien abhängig – machten 1864 dem eigenständigen Wirken der Paraguayer ein Ende. In einem blutigen Krieg öffneten sie mit Unterstützung britischer Banken den Markt, viele Paraguayer kamen ums Leben, und das Land wurde dem Weltmarkt unterworfen.

An dieser Stelle hätte man sich die Analyse tiefer gewünscht. Denn Roesler zeigt das Dilemma jeder eigenständigen Entwicklung im kapitalistischen Weltmarkt: Wer seinen Markt abschottet, wird bestraft. Paraguay ist dabei ebenso beispielhaft wie die »Öffnung« Japans 1853 durch die US-Marine oder auch die Blockade Kubas durch die USA, der das Land nur deshalb widerstehen konnte, weil die Sowjetunion dem Karibikstaat jahrelang solidarisch zur Seite stand.

Auch die Entwicklung im Sinne einer importsubstituierenden Industrialisierung, die nach der Weltwirtschaftskrise 1929 die dominante Wirtschaftsdoktrin Lateinamerikas wurde, stellt da keine Ausnahme dar. Mit ihr versuchten die zuvor allein vom Export abhängigen Staaten eine eigene Industrie aufzubauen, was gewissen Erfolg hatte, den Roesler zurecht hervorhebt. Aber genau diese Wirtschaftspolitik legte auch den Grundstein für die Schuldenkrise der 1980er Jahre. Denn die Staaten, die eine eigene Industrie aufbauen wollten, mussten die Produktionsanlagen oft aus den entwickelten Ländern einführen – so dass diese von dem Streben nach Eigenständigkeit profitierten – und dafür zudem Kredite aufnehmen.

Auch die Schwierigkeiten Kubas in der »Spezialperiode« zeigen, dass die bisherigen Modelle für eine zukünftige Gesellschaft nur zum Teil Pate stehen können. So ist es eher zu verstehen, dass die heutigen Linksregierungen zwei Politikformen zusammenführen, die eigentlich nicht zusammen passen.

Verbirgt sich der Weg zum »völlig Neuen«, das ein »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« laut Roesler darstellen könnte, nicht in dem, was er als verwirrende Verbindung von bislang getrennten Paradigmen bezeichnet, also »aktive Sozialpolitik und (neo-)liberale Wirtschaftsführung«? Ist vielleicht das eine schon ein Schritt auf dem Weg zur Utopie und das andere die realpolitische Reaktion auf den Weltmarkt? Die durch Förderung des solidarischen Staatenbündnisses ALBA und von endogener, selbstorganisierter kommunaler Entwicklung langsam ersetzt werden müsste, was teils geschieht.

Roeslers interessantes Buch dürfte eine Einmaligkeit auf dem deutschen Buchmarkt sein. Es bietet eine solide Grundlage für weitere Diskussionen.

Jörg Roesler: Kompakte Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Leipziger Universitätsverlag. 242 S., br., 19 €

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