• Kultur
  • Beilage zur Leipziger Buchmesse

Irgendein Wunder

CHRISTA KOZIK und der Engel

  • Gisela Karau
  • Lesedauer: 4 Min.

Eine zauberhafte Geschichte hat sich Christa Kozik da ausgedacht, zauberhaft illustriert von Egbert Herfurth. Der Leipziger leiv-Verlag, bekannt für seine Wiederentdeckung unverdient vergessener DDR-Bücher, hat das kleine Kunstwerk noch einmal aus der Versenkung geholt. Lilli kann wegen Gelbsucht nicht in die Schule gehen und keinen Besuch kriegen. Sie steht am Hochhausfenster im 21. Stock und langweilt sich. Da landet auf ihrem Fensterbrett ein Engel, schwarzhaarig im weißen Flatterhemd, unter der Nase einen goldenen Schnurrbart. Sie hat es ja gehofft und gewünscht, dass irgendein Wunder passiert, daher wundert sie sich nicht sonderlich, sondern lässt ihn rein. Er heißt Ambrosius.

So beginnt eine wundersame Freundschaft. Mama und »Papa fünf« – vier Papas sind schon abgehauen von der temperamentvollen Mutter – staunen nicht lange darüber, dass in Lillis Zimmer ein Engel wohnt und auf dem Kleiderschrank übernachtet. Er ist freundlich und hilfsbereit, spricht prima englisch und dass er immer mal betet, scheint auch Nichtbetern logisch. Wer, wenn nicht er, sollte an den lieben Gott glauben, den er nie gesehen hat, weil er zur untersten Schicht der himmlischen Heerscharen gehörte, bevor er abstürzte. Die Geschichten, die Ambrosius aus jener überirdischen Welt erzählt, gefallen Lilli. Doch sie meint: »Du hast Gott ja niemals gesehen und trotzdem glaubst du an ihn. Das verstehe ich nicht.« Er erwidert weise: »Es gibt Dinge, die sind unsichtbar, und doch sind sie da. Zum Beispiel die Liebe deiner Mama zu dir. Sie hat keine Gestalt, aber du spürst sie.« – »Das ist etwas anderes«, sagt Lilli, »ich glaube lieber an die Menschen.«

Bald versteckt sie ihn nicht mehr vor Nachbarn, Freundinnen, Lehrern und Mitschülern, sondern gewöhnt diese daran, dass sie einen Freund hat, der fliegen kann. Manchmal nimmt er sie mit, er umarmt sie, und ab geht es in die Lüfte. Das ist ganz toll, besonders, wenn man verschlafen hat und zu spät zur Schule käme. Lilli ist ja nun wieder gesund und in ihre Klasse zurückgekehrt. Ambrosius langweilt sich indessen allein auf dem Kleiderschrank und verspürt Lust, ebenfalls in die Schule zu gehen. Er bekommt einen großen weiten Pullover, unter dem seine Flügel einen kleinen Buckel bilden, und darf neben Lilli Platz nehmen. Die Lehrer, besonders die Englischlehrerin, haben Freude an ihm, aber der Schuldirektor findet, dass es sich für einen Schüler nicht gehört, durch die Botanik zu fliegen, wenn er nicht von der Schule fliegen will. Er redet ein ernstes Wort mit Lilli. Die wiederum redet ein ernstes Wort mit Ambrosius und bittet ihn, sich auf der Erde fortzubewegen wie ein normaler Mensch. Ihr zuliebe bemüht er sich, doch seine Füße schmerzen und er verliert Federn, und überhaupt wird er allmählich depressiv. Nur in den Ferien blüht er wieder auf, denn die verbringen Lilli und er auf dem Land bei Oma Anna. Die freut sich, wenn er die Flügel ausbreitet und sich die schöne Sommerwelt von oben ansieht. Zurück in der Stadt, ist das fröhliche Leben vorbei. Ambrosius fliegt manchmal heimlich aus dem Fenster, aber als Lilli dahinterkommt, wird sie böse. »Du liebst mich nicht, denn wenn du mich lieben würdest, dann könntest du das Fliegen vergessen.« Traurig erwidert er: »Wenn du mich liebst, dann lass mich bleiben wie ich bin.«

Spätestens hier merkt der kluge Leser, dass es der Autorin um Toleranz geht, darum, dass jeder das Recht hat, nach seiner Fasson selig zu werden, ob er nun Christ oder Atheist ist, Jude oder Moslem, und dass er unglücklich wird, wenn man ihn zwingen will, auf seine Individualität zu verzichten. Ambrosius verschwindet daher eines Tages wieder aus Lillis Leben. Wo mag er sein? Im Himmel oder irgendwo auf der Erde? Jedenfalls dort, wo er nach Herzenslust fliegen kann, wie es sich für einen Engel gehört. Lächeln und Nachdenken kann man über diese Geschichte. Beides brauchen Kinder – und nicht nur sie.

Christa Kozik: Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart. Ill. v.Egbert Herfurth. leiv Verlag. 128 S., geb., 9,90 €

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