- Kultur
- Beilage zur Leipziger Buchmesse
Agatas Reise zu sich selbst
ANTONIO DAL MASETTO zwischen Italien und Argentinien
Wenige Tage nach ihrem achtzigsten Geburtstag entschließt sich Agata, ihre alte Heimat wiederzusehen. Das Jahrhundert geht seinem Ende entgegen, und auch ihr Leben braucht einen wenn auch vorläufigen Schlussstrich. Vor vierzig Jahren hat sie ihr Dorf am Lago Maggiore in Norditalien verlassen, um sich den vielen Auswanderern anzuschließen, die in Argentinien den Folgen des europäischen Krieges und der Misere der Nachkriegszeit entkommen wollten. Wie aber verlief ihr Leben am Rio de la Plata? Es war, soviel deutet der Autor Antonio Dal Masetto in seinem Roman »Als wärs ein fremdes Land« an, ein durchschnittliches Leben als Hausfrau und Mutter. Damals erlaubte die Schiffsreise in die neue Welt der Seele, sich den Veränderungen von Zeit und Raum anzupassen. Nun ist es eine Angelegenheit von Stunden, die abgelegte Vergangenheit in einer Reise durch die Luft wiederzufinden.
Zu Agatas Empfang am Flughafen von Rom hat sich unübersehbar viel Verwandtschaft eingefunden. Küsse und Umarmungen. Agata ist glücklich und doch verwirrt. Dieses neue Italien ist, je mehr sie davon auf der Fahrt nach Terni, in ihr altes Dorf am Lago Maggiore, kennenlernt, ein fremdes Land. In Rom hat man ihr den Pass gestohlen, und zum Glück hatte die Verwandtschaft in Argentinien ihre schmale Barschaft ins Mantelfutter genäht. Silvana, eine resolute junge Frau, hilft ihr, mit der Bürokratie und den unbekannten Verhältnissen fertig zu werden. In ihrem Auto erreicht Agata alles, was ihre Erinnerung gespeichert hat – Ortschaften, Häuser, Uferböschungen, Bäume. Der große Walnussbaum im Garten des Hauses, an das sie sich so gut erinnert, ist gefällt worden. Die neue Mieterin betrachtet sie mit Argwohn. Überhaupt, was ist aus der herzlichen Anteilnahme geworden, mit der sich früher Nachbarn und Verwandte begegneten? Die Verwandtschaft, die sie aufgenommen hat, will sich Kost und Logis bezahlen lassen. Die Kinder erkundigen sich nach der Anzahl der Autos und Häuser, die der Gast in Argentinien besitzt, und wenden sich enttäuscht ab, als Agata in der Rolle einer reichen Tante aus Amerika versagt. Sie zieht um in eine bescheidene Herberge, wo sie allein mit ihren Gedanken sein kann. Immer wieder beobachtet sie Szenen brutaler Gewalt vor allem gegen schwarze Gastarbeiter, denen es gelungen ist, in Italien aufgenommen zu werden. Das Schicksal der vielen, die auf der Suche nach den Segnungen des Konsums im Meer ertrinken oder zurückgeschickt werden, empört sie. Auch Italien, aus dem in ihrer Jugendzeit die Verfolgten und Hungernden nach Argentinien entkamen, ist dabei, eine Festung zu werden. Gewalt, so liest sie in der Zeitung, wird zur Epidemie auch in Deutschland. Der Autor dokumentiert auf mehreren Seiten die Brandanschläge in Mölln und in Rostock. Agatas Versuche, in der Landschaft rings um den Lago Maggiore die Träume ihrer Jugend wiederzufinden, zerbrechen anhand dieser Realität. Aber ist denn Argentinien im Vergleich zum heutigen Italien das gelobte Land? Damals entkamen die europäischen Auswanderer dem Faschismus und fanden nach dem Krieg in Argentinien die Hakenkreuzfahnen deutscher Nazis, denen Peron Asyl gewährte. Sie erkennt: »Die heutige Welt und die andere, ferne Welt waren durch denselben Irrsinn, dieselbe Grausamkeit miteinander verbunden.« Die junge Silvana lässt sich nicht unterkriegen, aber sie scheitert in der Liebe zu ihrem Freund. Dass sie keine Kinder haben will, bekümmert die in ihrem Wesen mütterliche Agata. Ist denn der Verzicht auf eine Zukunft nicht schon das Eingeständnis einer Niederlage?
Antonio Dal Masettos Roman bevorzugt die leisen Töne. Die Kaffeepausen am Wege, die sich Agata und Silvana gönnen, geben beiden Frauen Gelegenheit zu ausführlichen Gesprächen, die sich oft im Kreise drehen. Antonio Dal Masetto, 1938 am Lago Maggiore geboren, wanderte 1950 mit seinen Eltern nach Argentinien aus. Bekannt geworden ist er mit einer Reihe Kriminalromane, die auch in deutscher Übersetzung erschienen sind. Sein mit dem begehrten Literaturpreis Planeta Biblioteca del Sur ausgezeichneter Roman »Als wärs ein fremdes Land« erzählt am Beispiel Agatas die Geschichte seiner Mutter und ist zugleich ein überzeugendes und unterhaltsames Beispiel für eine Literatur der Migration.
In Masetto, wie der Verlag verkündet, einen neuen Borges entdeckt zu haben, scheint mir freilich übertrieben. Die Zeit experimenteller Literatur eines Borges, Cortázar, Bolano ist vorbei. Die Wiederkehr eines Realismus der Anteilnahme und einer engagierten Schilderung der Gegensätze aber findet mehr denn je unsere Zustimmung.
Antonio Dal Masetto: Als wärs ein fremdes Land. Roman. A. d. Span. v. Susanna Mende. Rotpunktverlag. 300 S., geb., 21,50 €
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