- Kultur
- Beilage zur Leipziger Buchmesse
Leise, feine Literatur
RYSZARD KAPUSCINSKI: Frühe Reportagen
Als Ryszard Kapuscinski am 23. Januar 2007 im Alter von 74 Jahren in Warschau stirbt, würdigt ihn die französische Zeitschrift Libération mit dem Satz: »Die Freude auf der Welt ist kleiner geworden, weil einer, der sie vergrößert hat, verschwunden ist.«. Weltberühmt wurde er durch seine Reportagen aus Afrika, aus Iran und aus Lateinamerika. Seine Werke wurden in dreißig Sprachen übersetzt. Mehrmals galt er als einer der Favoriten für den Nobelpreis. Er war ein Chronist des Despotismus, der Konflikte, der Not der »Dritten Welt« und unserer Blindheit. 1994 erlebten wir ihn als ersten Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung. Mit Recht und zu Recht eröffnete Kapuscinski damals eine inzwischen lange Liste von Persönlichkeiten, die sich in besonderer Weise um das zivilisierte, nicht immer konfliktfreie Zusammenleben verdient gemacht haben.
Seine ersten Lorbeeren verdiente sich Kapuscinski mit Inlandsreportagen. Später hat er die ganze Welt bereist, hat 27 Revolutionen miterlebt und als Beobachter an verschiedenen Kriegen und Aufständen in Amerika, Asien und besonders in Afrika teilgenommen. Als Reporter sah er in dem, was anders war, vor allem das Faszinierende und wehrte sich dagegen, im »anderen« den Fremden und Gefährlichen zu sehen. Zur eigentlichen Bewährungsprobe wurde sein langer Afrika-Aufenthalt in den 60er Jahren. Er war als einziger Korrespondent der polnischen Nachrichtenagentur für den ganzen Kontinent zuständig. Afrika wurde für ihn eine Art zweite Heimat. Er reiste den Ereignissen nach, und oft gefährdete er sein eigenes Leben, um an wichtige Informationen zu gelangen.
Ryszard Kapuscinski hinterlässt ein außergewöhnliches Erbe. Er zeigte uns, wie man zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit unterscheidet. Er machte vor, wie man die Mechanismen der Macht entschlüsselt – und zwar jeder Art von Macht. Er war ein Übersetzer von einer Kultur in die andere und eine moralische Autorität. In seinem Schreiben kommt eine tiefe Empörung über jegliche Form der Ungerechtigkeit zum Ausdruck. Er recherchierte fern vom Glanz der Macht und abseits von vielen seiner Kollegen, die oft sensationslüstern über ein Thema herfielen und es ebenso schnell wieder fallen ließen. Er blieb, wenn alle gingen, und er war noch da, wenn die wirklichen Geschichten begannen.
Dieses Leben und Schaffen wird dieser Tage in einer in Polen erschienenen Biografie über den Autor in Frage gestellt. Aus Akten seien Ungereimtheiten zwischen beschriebenem und gelebtem Leben offensichtlich geworden. Im Nachbarland ist darüber eine heftige Diskussion im Gange. Das Werk tritt dabei in den Hintergrund, die Machart kommt bekannt vor. Warum eigentlich gehört es inzwischen schon zum »guten Ton«, europäische Biografien in bilderstürmerhafter Manier neu zu sortieren?
Das Bändchen »Ein Paradies für Ethnographen« enthält frühe polnische Reportagen. Es ist eine Zeitreise in die Jahre nach dem Krieg, literarische Reportage über sein Heimatland Polen – und das Verhältnis zu Deutschland.
11. September 1961, Montag. Zwei Frauen fliehen aus einem Altersheim in Szczytwo, Mutter und Tochter, Augusta und Margot. Sie kaufen zwei Fahrkarten und fahren mit der Bahn durch die schöne Landschaft der Masuren. Ihr Ziel ist Taubus, besser gesagt, das ehemalige Taubus, das jetzt Olecko heißt. Zwei Frauen, grau, erschöpft, entschlossen. Sie wollen ihr Haus am Ringplatz in Taubus zurück, sagen sie, weil Polen doch jetzt wieder deutsch sei ... Augusta, 85 Jahre alt, deutschstämmig, kann die Nachkriegsordnung nicht begreifen. Es seien ja so viele Kriege über Polen hinweggezogen. Jetzt sei alles wieder so wie früher … Tragik überdeckt Komik, Hass der Mitmenschen steht anstelle von mitfühlendem Verständnis.
Die Helden in diesen Reportagen, die in Wahrheit immer auch grandiose Erzählungen sind, sind kleine Leute: Umsiedler, die das Schicksal von einem Ende Polens an das andere geworfen hat, Menschen auf der Suche nach Arbeit und besseren Löhnen, deutsche Frauen, die sich nach Kriegsende nicht mehr zurechtfinden. Die große Politik bleibt ausgesperrt, stattdessen belauscht Kapuscinski die Gespräche und findet die Geschichten, in denen die Wirklichkeit jener Zeit – die 1950er und 1960er Jahre in Polen – unvergleichlich aufscheint.
»Ein Paradies für Ethnographen« bleibt leise, feine, nicht immer schmerzfreie Prosa und ist jedem zu empfehlen, der über Literatur auch Verständigung sucht. Der entdecken und begreifen will.
Ryszard Kapuscinski: Ein Paradies für Ethnographen. Polnische Geschichten.
Eichborn Verlag. 124 S., geb., 16,95 €
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