• Kultur
  • Beilage zur Leipziger Buchmesse

Der junge Tote

RONALD M. SCHERNIKAU: Aus dem Nachlass

  • Michael Sollorz
  • Lesedauer: 4 Min.

So viel Schernikau war noch nie. Beharrlich sickert der Geheimtipp in die breitere öffentliche Wahrnehmung. Letztes Jahr fand »Der letzte Kommunist« ein enormes Echo, Matthias Frings' Erinnerung an »Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau«. Gerade entsteht für arte/rbb ein Portrait, und zwei neue Bücher bringen Texte aus dem Nachlass des jungen Toten; dieses Jahr wäre er fünfzig geworden.

»Irene Binz« ist die Geschichte seiner Mutter. Mit Anfang Zwanzig interviewte er sie ein Wochenende lang und schuf aus den 600 Seiten Bandabschrift das Portrait einer jungen Frau in den 60ern, alleinerziehend, Lehrschwester in Magdeburg. Sie steht für viele, die im Aufbau der sozialistischen Gesellschaft ihre Möglichkeit sinnvollen Lebens sahen, im Finden privaten Glücks jedoch auf Ablehnung stießen. Irene Binz will mit dem Vater ihres Kindes eine kleine Familie sein, doch der ist mittlerweile im Westen. Nun hadert die Frau. Soll sie ihm nach in die Fremde oder bleiben, wo Freunde und Genossen sind, die Arbeit? Sie geht. Mit im Kofferraum des Fluchtautos das sechsjährige Kind. Heil drüben, erweist sich der Vater als Lügner, lebt längst mit einer anderen und neuem Nachwuchs.

Was uns rettungslos hinzieht zu jemandem, ist immer am schwersten zu beschreiben. So werden auch in der späteren Befragung durch den erwachsenen Sohn die Gründe für Mutters Eselei nicht restlos verständlich, bleibt ein Rest Geheimnis, aufgeladen mit den Widersprüchen zwischen Kollektiv und Individuum. Wir erfahren von den Schmerzen einer Eingewöhnung, die so recht nie gelingt, weil Irene Binz kein politischer Flüchtling sein will. »Ich bin privat hier!«, verkündet sie trotzig im Aufnahmelager, was ihre Prozeduren erheblich verlängert. Widerwillig erkennt sie: Hier ist eine andere Welt.

Der Weltenwechsel mit Deutungsauftrag wird das Lebensschicksal des Ronald M. Schernikau. In der bundesdeutschen Provinz wächst er auf im Bewusstsein des falschen Ortes und träumt von einer Heimkehr in den Osten. West-Berlin wird ein erster Annäherungsschritt, die armselige Existenz als Student und freier Autor. Dann gelingt das Direktstudium am Literaturinstitut in Leipzig, und im Herbst '89 zieht er unbeirrbar den Ausreisemassen entgegen nach Berlin-Hellersdorf. Hier bekommt er stolz seinen blauen Personalausweis und erlebt die Implosion der DDR. Wenig später stirbt er.

Auch das zweite Buch verdanken wir dem liebenden Fleiß der Leute um Herausgeber Thomas Keck, Schernikaus Lebensgefährten. »Königin im Dreck« bündelt »Texte zur Zeit«, erschienen zwischen 82 und 91 in der Presse und Anthologien. Wieso sind Schlager in der DDR so gut? Was macht ein revolutionärer Künstler ohne Revolution? Wie wird ein Brötchen ein Brötchen im Sozialismus? Vielleicht gehört nicht jede Naseweisheit zwingend zwischen Buchdeckel. Aber die Sammlung hat es in sich. Sie erinnert uns, wie Texte klingen können, die mit einer klaren Haltung auf die Welt blicken. Und daran, dass eine Haltung Mut erfordert, gegebenenfalls auch den Mut, alleine dazustehen.

»der kapitalismus hatte nur eine chance: so zu tun, als sei er keiner. er würde den leuten mit dem stundenlohn erzählen müssen, sie seien herren ihrer selbst. das hat geklappt, herzlichen glückwunsch.« Der junge Dichter litt unter der Verblödung, der Versacktheit seiner Umgebung im Westen. »du denkst, es kann nicht anders sein. du hörst auf, dich zu wehren.« In der DDR, so hoffte er, lägen diese Dinge anders. Deswegen machte er sich auf den Weg.

Vielen ist Schernikau ein Spinner, seine Arbeit Schnee von gestern. Das wundert wenig, schimmern doch in seinem frechen Systemvergleich mehr denn je die Chancen durch, entwickeln vertane Möglichkeiten ihren subversiven Sog. Die Kontur des Autors zeigt sich vollends in seinem kühnen Auftritt auf dem letzten Schriftstellerkongress der DDR im März 1990. Die Damen und Herren Ost-Kollegen waren nur mäßig geneigt, dem jungen Exoten zuzuhören. Heute liest man die Rede mit Schrecken. Du kluges Kind, das wusstest du schon? Warum haben wir dir nicht geglaubt?

Ronald M. Schernikau: Irene Binz. Befragung. Rotbuch. 220 S., geb.,16,95 €. Königin im Dreck. Verbrecher Verlag. 304 S., brosch., 15 €

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.