• Kultur
  • Beilage zur Leipziger Buchmesse

Da ist was

CLEMENS MEYER spürt sicht- und unsichtbaren »Gewalten« nach

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 3 Min.

Auf dem Hauptbahnhof Leipzig gibt es eine Bar, gleich neben der breiten Treppe, die in die Schalterhalle führt, darin sitzen die Toten. Mit ihnen, nicht oft, die Bar schließt schon um 23 Uhr, trinkt Clemens Meyer sein Bier. Lebt er? Er lebt, und wie. In Bars, Bordellen, Hotelzimmern, auf Galopprennbahnen, in Fußballstadien, Spielbanken, auf Rummelplätzen, in Filmen, Büchern, Computerspielen, ausgerissenen Zeitungsmeldungen und immer wieder unterwegs auf den Bahngleisen, die irgendwohin führen. Und irgendwo laufen all diese Gleise zusammen, irgendwo sind all diese Orte derselbe, irgendwo werden Träume, Tragödien, Traumata und vermeintliche Tatsachen eins. Das ist im Kopf. Kopfbahnhof. Leipzig Hbf.

Dem Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer, 1977 geboren, ist die Rolle des Outlaws eingebrannt: Tätowierungen, Alkohol, Schlägereien, Jugendarrest und dann – Studium am Leipziger Literaturinstitut. Der Roman »Als wir träumten« (2006): sein gewaltiger Durchbruch durch das Ende der sozialen Sackgasse in den Literaturbetrieb. Gibt es das Wort Sackbahnhof? Aber ja. Das ist der Ort, der Clemens Meyer nicht loslässt. So oft er auch unterwegs ist, hier endet alles, alles geht hier los.

Nach dem Erzählband »Die Nacht, die Lichter« (2008) jetzt »Gewalten. Ein Tagebuch«. Wenn das ein Tagebuch ist, dann das eines Tagträumers, eines Nachtarbeiters. Elf Protokolle des Wahnsinns, den wir Alltag nennen. Wo andere die Nichtigkeit des Normalen wähnen und daran verzweifeln, irren Meyers Blicke verstört umher, als hätte er drei, vier, fünf Augen und mehr. Nichtig? Nichts. Da war doch was, da ist was, und da und da und da. Mord, Totschlag, kranke Lust, Verwesung. Verfolgt wird dieser Erzähler von krassen Erinnerungen und vergifteten Wahrnehmungen, aber auch von Nachrichten aus Abu Ghraib, Guantanamo, Winnenden und dem Stötteritzer Wäldchen, von Szenen aus Kino und Literatur, verfolgt selbst noch vom längst verblichenen Spielerglück des eigenen Großvaters, sogar von Luther, Bach, den Urvätern des mitteldeutschen Protestantismus. Und natürlich von den verrohten Fans des 1. FC Lok Leipzig, den verhassten »Lokisten«. Clemens Meyer ist »Chemiker«, lebenslang, also Anhänger der BSG Chemie, die seit der Wende FC Sachsen Leipzig heißt und immer wieder insolvent ist. Gewalten 2009: das erste Aufeinandertreffen der ewig verfeindeten Stadtrivalen seit Jahren. 15 000 Zuschauer, in der fünften Liga.

Eine Wahrsagerin liest Angst vor dem Chaos aus Meyers Hand. Es stimmt. Zahlen sollen helfen, das Chaos zu regieren. Allein, es gelingt ihnen selten: Startnummern auf der Rennbahn, Wettquoten, Quersummen, die magische 13, die für den Buchstaben M steht; »Die Stadt M«, »Der Fall M« heißen Kapitel. Und nach und nach fließt alles in eins: Einsame Worte, Gedanken, Motive, Figuren springen von Kapitel zu Kapitel – und stiften Zusammenhang. Sinn? Halt.

Aber Freunde sterben, es stirbt auch der alte Hund Piet. Nur im Kopf, im Kopfbahnhof, der hier so fiktiv wie wirklich ist, hat das Leben kein Ende. Die Geister der munteren Toten spuken rastlos weiter. Ewigkeit – ein Trost? Ein Fluch. Meyer: »... wäre es nicht furchtbar, Milliarden Jahre Bier zu trinken in der Gartenkantine Eden und kein Ende in Sicht, und der Kater nach fünf Millionen Jahren endlich ausgestanden, und die nächste Runde wartet schon ...«

Die Bar, Leipzig Hbf.

Clemens Meyer: Gewalten. Ein Tagebuch. S. Fischer. 192 S., geb., 16,95 €

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