Partituren und Utopien
Die MaerzMusik bindet in ihr Festival für aktuelle Musik viele Spielstätten ein
»Utopien des Körpers« nannte sich vor Jahren ein Tanzfestival, das nach den Hoffnungen fragte, die dem Körper eingeschrieben sind. Seither hat sich diese Frage noch intensiviert: Krisen vieler Art hinterlassen Narben der Hoffnungslosigkeit. Nun ist mit der neuen, neunten Ausgabe der MaerzMusik auch das Festival für aktuelle Musik diesem Thema auf der Spur. Vielleicht ist ja tatsächlich die Musik mit ihrem hohen Abstraktionsgrad geeignet als Vorreiter auf der Suche nach unverbrauchten Utopien, die Mut machen. »Utopie (verloren)« lautet dialektisch in positiver Negation das diesjährige Motto in der Hoffnung auf Gegenbeweise durch die Tonkunst.
Zehn Tage lang gehen internationale Künstler an verschiedensten Orten auf die Reise in neue Erfahrungsbereiche – unter den 38 Veranstaltungen sind allein 18 Uraufführungen und sechs deutsche Erstaufführungen. Viele entstanden als Auftrag der MaerzMusik im Verbund mit zahlreichen Partnerinstitutionen in ganz Europa, vom Aldeburgh Festival bis zu den Wiener Festwochen. Jungen Komponisten soll das Chancen einräumen. Dass in diesem Jahr der Schwerpunkt auf dem Musiktheater liegt, ist ein gutes Zeichen: Aktuelle Musik und Theater scheinen wieder Gefallen aneinander zu haben.
Eröffnet wird das Festival in der Volksbühne mit Salvatore Sciarrinos Oper »Lici mie traditrici«. Rebecca Horns Regie und Ausstattung errangen bei den Salzburger Festspielen 2008 hohes Lob. Inhalt ist der Mord des italienischen Renaissancemusikers Gesualdo an seiner Frau und deren Liebhaber: düsteres Exempel für die Utopie einer unerfüllbaren Liebe.
Am Festivalausklang steht in der Schaubühne Beat Furrers Musiktheater »Wüstenbuch«, das unter anderem Texte von Ingeborg Bachmann sowie aus einem altägyptischen Papyrus um den Dialog eines todessüchtigen Ich mit seiner diesseitigen Seele verwendet. Christoph Marthalers Inszenierung zeigt die Wüste als Metapher der Leere und der Fantasien.
Um arabische Trauergesänge kreist Mela Meierhans’ »Rithaa – Ein Jenseitsreigen«; die gegenläufigen Intentionen von Migranten und Touristen thematisiert Lucia Ronchettis »Der Sonne entgegen«. Zu Katastrophenbildern zerlegt Clemens Goldberg Teile der berühmten Messe des Franzosen Antoine Brumel aus der Zeit um 1500 und will so die Utopie des Untergangs sichtbar machen. Der bildende Künstler William Kentridge und der Komponist Francois Sarhan schließlich demontieren in der von Gogol, Schostakowitsch und Charms inspirierten Musik-Film-Performance »Telegrams from the Nose« sowjetische Polit-Mythen: hier das Aus futuristischer Utopien unter Stalin.
Orchesterkonzerte setzen einen weiteren Festivalakzent. Zu hören sind Werke von Heinz Holliger, Bernd Alois Zimmermann, Edgard Varèse. Thomas Kessler verteilt für »Utopia« die Musiker mitsamt Computer und Verstärker im Raum, verfremdet den Klang live-elektronisch. Uraufführungen steuern John McGuire und hans w. koch bei, dessen »stele für n.o.« an den frühen russischen Avantgardisten Nikolai Obuchow erinnert. Auch Musik von Obuchow selbst, Teile seines aufführungstechnisch problematischen und deshalb kaum je gespielten Mysterien-Projekts »Le Livre de Vie«, wird im Konzerthaus erklingen.
Neben der Staatskapelle Weimar gehört zu den namhaften Ensembles das Collegium Novum Zürich, das neue Kammermusik von Georg Friedrich Haas, Klaus Ospald und Klaus Huber vorstellt, alle mit Einsatz von Live-Elektronik. Uraufführungen von Johannes Schöllhorn, Meng-Chia Lin, Eduardo Moguillansky, Saskia Bladt, Isabel Mundry stehen auf dem Programm des Ensemble ascolta in der Sophienkirche. Dort ist auch Kammermusik von Giacinto Scelsi, Barbara Monk Feldman, György Kurtág und Sciarrino mit dem Quartetto Prometeo zu erleben. Dieter Schnebel feiert seinen 80. Geburtstag mit »Mild und leise – ultima speranza. Bachmann-Gedichte III« für Altstimme und Kammerensemble im Konzertsaal der Universität der Künste; in der Philharmonie musiziert das Arditti String Quartet unter anderen Georges Aperghis, James Clarke, Olga Neuwirth, Hugues Dufourt; Experimente offeriert an vielen Orten wieder die Sonic Arts Lounge.
Besonders spannend dürfte die Uraufführung »A wave and waves« von Michael Pisaro sein, eine abendfüllende Partitur, bei der sich zweiteilig auf- und abschwellende Klangwellen von 100 Perkussionsinstrumenten überlagern und statistisch verteilen.
19.-28.3., MaerzMusik, Kartentelefon 25 48 91 00, Infos unter www.maerzmusik.de
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