Den Aufschrei organisieren
Gewerkschafter, SPD und LINKE debattierten in Würzburg über die Krise
NGG-Chef Franz-Josef Möllenberg prangerte vor rund 180 Zuhörern die Vernichtung regulärer Arbeitsverhältnisse und die starke Zunahme von Armutslöhnen und unsicherer Beschäftigung an. »Das sprengt unsere Gesellschaft«, warnte der Gewerkschafter.
»Man hat das Haus angezündet, holt die Feuerwehr und will gelobt werden, wenn man den Löschschlauch hält«, kritisierte Klaus Ernst, Vize-Vorsitzender der LINKEN, den mangelnden Willen der politischen Entscheidungsträger, sich von einer Unterordnung unter die Finanzmärkte zu lösen. »Die Banken gehören unter gesellschaftliche Kontrolle«, forderte Ernst.
Kapitalismuskritik klang auch bei der früheren hessischen SPD-Landesvorsitzenden Andrea Ypsilanti an: »Das neoliberale Gesellschaftssystem und der Kapitalismus sind gescheitert.« Sie diagnostizierte eine Gleichzeitigkeit von Finanz-, Wirtschafts-, Klima-, Ökologie- und Bildungskrise sowie eine Vertrauenskrise gegenüber politischen Institutionen. »Die Daseinsvorsorge muss in öffentlicher Hand bleiben«, forderte Ypsilanti und sprach sich für einen »Aufschrei der Gesellschaft« gegen die aktuellen Zustände aus.
»Der von Andrea Ypsilanti reklamierte Aufschrei muss organisiert werden«, gab der Würzburger ver.di-Sekretär Peter Baumann zu bedenken. Die Gewerkschaften sollten nicht für Ruhe sorgen, sondern »Unruhe, Widerstand und Wut organisieren, sonst ändert sich nichts«. Baumann begrüßte die neu aufgekommene Debatte über ein politisches Streikrecht. »Wenn wir Wut organisieren würden, geriete die Demokratie ins Wanken«, befürchtet hingegen Möllenberg. »Die Gewerkschaften sind Ordnungsfaktor und Teil des Systems«, erklärte der NGG-Chef und lobte die Sicherung von Arbeitsplätzen in der Autobranche durch die Abwrackprämie.
»Wir haben 1998 gedacht, mit der rot-grünen Bundesregierung liefe alles in unserem Sinne«, warf der DGB-Regionsvorsitzende Frank Firsching ein und plädierte dafür, dass die Gewerkschaften auch bei einer möglichen künftigen Regierung links von Schwarz-Gelb wachsam bleiben und mit außerparlamentarischen Aktionen Druck ausüben müssten. Eine Debatte über ein politisches Streikrecht und Proteste während der Arbeitszeit sei »gewiss kein anarchistischer Anschlag auf die Demokratie«, so Firsching.
»Das praktizieren wir in Schweinfurt schon«, betonte Klaus Ernst, IG-Metall-Bevollmächtigter in der Industriestadt am Main, und erinnerte daran, dass dort schon vor Jahren mehrere tausend Metallarbeiter während der Arbeitszeit gegen Riester-Rente und Anhebung des Rentenalters protestiert und eine Bundesstraße blockiert hätten. Ein politischer Streik könne auch der Politikverdrossenheit entgegenwirken.
»Ich brauche keinen Nachhilfeunterricht in Sachen politischer Streik«, meldete sich Möllenberg zu Wort und erinnerte daran, dass NGG-Mitglieder schon 1996 für die von Schwarz-Gelb per Gesetz abgeschaffte volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gestreikt hätten. «Wir sollten uns nicht erzählen, was man vor 10 oder 20 Jahren falsch gemacht hat, sondern sagen, was man morgen anders machen will«, hielt Möllenberg Diskussionsrednern vor, die wie Klaus Ernst die zentrale Verantwortung der SPD für die Hartz-Gesetze und den ausufernden Niedriglohnsektor anprangerten. Ernst stellte inhaltliche Bedingungen für eine mögliche Kooperation und betonte: »Bei SPD und Grünen müssen sich erst vernünftige Inhalte durchsetzen.« Andrea Ypsilanti teilte viele seiner inhaltlichen Aussagen und bat gleichzeitig um mehr Geduld. Bei der Aufarbeitung der historischen 23%-Niederlage in der letzten Bundestagswahl lege die Basis die Finger in die Wunde und sei weiter als die Führungsetage.
Dass dem teilweise schon so sein könnte, zeigten systemkritische Töne von SPD-Aktivisten im Saal. Vor allem freuten sie sich über eine wieder kämpferischer auftretende Andrea Ypsilanti. »Diese Veranstaltung macht Mut«, resümierte auch Möllenberg.
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