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Marktwirtschaft ohne Mäntelchen

Neues vom ungarischen Kino, von Altmeistern und Newcomern auf der Suche nach starken Geschichten

  • Ralf Schenk
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist lange her, dass Ungarns Kino im Fokus des internationalen Interesses stand. In den späten 1960er-Jahren hatte János Kadár, der im Laufe seiner Amtszeit als KP-Vorsitzender zum halbwegs liberalen Staatschef mutiert war, den Filmemachern seines Landes einige Freiräume für kritische Gegenwartsgeschichten und allegorische Abrechnungen mit der Vergangenheit eröffnet. Altmeister wie Zoltán Fábri, Károly Makk und András Kovács nutzten diese Möglichkeiten für außerordentliche Werke. Péter Bacsó inszenierte seine antistalinistische Satire »Der Zeuge« (1969), die sogleich verboten wurde, und widmete sich dann sozial genauen Studien aus dem Arbeitsmilieu. Miklós Jancsó entwickelte einen eigenen Stil gruppendynamischer Parabeln über Schuld und Sühne, Unterdrückung und Widerstand und ließ in »Meine Liebe, Elektra« (1974) sogar einen roten Hubschrauber inmitten brennender Kerzen in der Puszta landen. Seine damalige Lebensgefährtin Márta Mészáros überzeugte, unter anderem in »Adoption« (1975) und »Neun Monate« (1976), mit Plädoyers für mehr Achtung und Aufmerksamkeit gegenüber Frauen. Und vom Béla-Bálazs-Studio ausgehend, einer Denkfabrik jüngerer Regisseure, machten István Szabó und zahlreiche Verfechter des dokumentarischen Spielfilms auf sich aufmerksam.

Nach dem Ende des realen Sozialismus in Ungarn geriet auch das Kino in eine Krise. Kommerz war gefragt, nicht Kunst. Gegenwartskritik wurde nun täglich aktuell in der Zeitung geübt, und für wagemutige Großprojekte gab es kein Geld. Etliche Regisseure mutierten zu Produzenten oder TV-Direktoren, ihre jungen Nachfolger kamen oft über ein oder zwei Filme nicht hinaus. Die Gefahr bestand, dass Ungarns Kino materiell und ideell ausblutete. Inzwischen, nach fast zwanzig Jahren, sind die Zeiten zwar immer noch nicht rosig, aber bestimmte Mechanismen ermöglichen eine Weiterexistenz des ungarischen Films auf durchschnittlichem, bisweilen sogar gutem Niveau. In den letzten Jahren wurden jeweils zwischen 25 und 30 Produktionen uraufgeführt. Der Staat schießt aus verschiedenen Fördertöpfen jährlich rund 42 Millionen Euro zu. Weil das nicht ausreicht, suchen die Filmfirmen ständig nach Koproduzenten, beim Fernsehen, aber vor allem im Ausland. Rund die Hälfte des Geldes, das den ungarischen Film am Laufen hält, kommt aus internationalen Quellen. In 187 Kinos mit 416 Sälen wollten 2008 knapp 1,2 Millionen Ungarn einheimische Arbeiten sehen, das sind etwa 12 Prozent der Gesamtbesucher. Nicht schlecht, aber durchaus verbesserungswürdig, wie die Filmindustrie findet.

Fragt sich nur, welche Geschichten am besten ankommen? Ein Blick aufs Programm der 41. Ungarischen Filmwoche, die im Februar in Budapest stattfand, verdeutlicht, dass alle Regiegenerationen, von der ganz alten bis zur jüngsten, mit neuen Arbeiten aufwarten und, im besten Falle, in einen Dialog miteinander treten werden. Moralisch rigoros wie eh und je, nur formal etwas bieder, porträtiert der greise Károly Makk (85) in »So wie Du bist« den neuen Bürgermeister einer Kleinstadt, der gegen Korruption und Machtmissbrauch eintritt, aber bald selbst in die Fänge der ortsansässigen Mafia gerät. Márta Mészáros (79) widmet sich in »Letzter Report über Anna« einer Heldin des Ungarn-Aufstandes 1956, die später ins Ausland emigriert war und von einem Literaturdozenten im Auftrag der ungarischen Staatssicherheit bespitzelt und ins Land zurückgelockt werden soll: ein filmisches Requiem, das, wie viele ihrer Filme zwischen »Tagebuch« (1982) und »Imre Nagy« (2004), noch einmal die Unversöhnlichkeit der Regisseurin gegenüber dem Machtapparat der realsozialistischen Ära belegt.

Auch Miklós Jancsó (89) kehrt in »So viel zur Gerechtigkeit« zu dem zurück, was er am besten kann: einem ironischen Geschichtspanorama, diesmal über einen Renaissancekönig, der gut sein will, aber es doch nicht immer sein kann, mit sarkastischen Seitenhieben auf die Unberechenbarkeit jeglicher politischer Voraussagen. Der Film, mit György Cserhalmi und Daniel Olbrychski in wichtigen Rollen, mäandert zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert umher, vereint tanzende Jungfrauen, heranstürmende Türken, vergiftete Pilze und Zaubermesser zu einem Reigen, der für denjenigen, der sich in ungarischer Historie nicht auskennt, zwar weithin unverständlich ist, dessen eigentümliche Atmosphäre aber dennoch in ihren Bann zu ziehen vermag.

Jüngere Regisseure arbeiten ihren Stilwillen dagegen eher an Gegenwartslegenden ab, so wie Szabolcs Hajdu, der für »Bibliotheque Pascal« den Hauptpreis der ungarischen Filmwoche erhielt. Hauptfigur ist eine junge Rumänin, die ihre Heimat verlässt, als Sexsklavin nach England gerät und dort, in einem Bordell für Reiche und Intellektuelle, fast zu Tode kommt. Hajdu erzählt das nicht dokumentarisch, wie schon so oft gesehen, sondern erschafft sich einen eigenen poetischen Realismus, der aus Fabeln und Träumen, Folklore und eiskaltem Design gespeist ist. Seine visuell überbordende Story nimmt Anleihen von Federico Fellini bis zu Steven Spielbergs »A.I.« auf, zitiert literarische Figuren von Pinocchio bis Lolita – und kreiert doch ein ganz eigenes Universum zwischen Burleske und Horror. In dieser, unserer Welt, so behauptet der Film, kann nur noch das Imaginierte die schreckliche Wirklichkeit besiegen: Die Träume materialisieren sich; aus dem Schlaf heraus erwachsen die Retter, hier die Mitglieder einer lautstark auftrumpfenden rumänischen Blaskapelle, die das geschundene Mädchen aus seinem Liverpooler Bordell-Kerker befreien und es zurück in die Heimat führen. Der Titel des Films spielt auf ein Zitat des französischen Naturwissenschaftlers und Philosophen Blaise Pascal an, dessen berühmtester Satz wie ein Menetekel über der Heldin schwebt: »Alles Unheil kommt von einer einzigen Ursache, dass die Menschen nicht in Ruhe in ihrer Kammer sitzen können.«

Es darf gemutmaßt werden, dass »Bibliotheque Pascal« nach seiner internationalen Premiere während der Berlinale nun von Festival zu Festival weitergereicht wird. Was auch anderen, leiseren Budapester Gegenwartsfilmen zu wünschen wäre: »Haus der Sehnsucht« (R: Jozsef Paczkovszky) etwa, einem schwarz-weißen Drama über ein begütertes Paar, das sich in Alkohol und Lügen verstrickt und eine junge Haushaltshilfe aus ärmerem Milieu mit in dieses Geflecht hineinlockt; oder »Vespa« (R: Diana Gróo), in dem ein Roma-Junge aus seinem Dorf in die Hauptstadt aufbricht, um einen vermeintlichen Lotteriegewinn abzuholen, und dabei mit aller Schlechtigkeit der Welt konfrontiert wird; oder »Team Building« (R: Almási Réka), in dem eine Gruppe von acht Männern und Frauen von einem Motivationstrainer für einen neuen Job geschult wird, Demütigungen erträgt und dabei fast ihren eigenen Willen einbüßt: bis am Ende die Bombe platzt. Der Film, nicht frei von didaktischen Konstruktionen, liefert einen Kommentar zur Marktwirtschaft, die jedes soziale Mäntelchen abgelegt hat. Er ist einer von mehreren kraftvollen Hoffnungsträgern des neuen ungarischen Films, die auch in deutschen Kinos ihren Platz finden sollten.

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