Musik, als würden Säulen gebaut
Der brasilianische Popmusiker und Ex-Minister Gilberto Gil über Reggae und Widerstand
ND: Herr Gil, im April 2008 sind Sie nach gut fünf Jahren als Kulturminister Brasiliens zurückgetreten. Was hat sich dadurch für Sie verändert?
Ich kann mich wieder ganz der Musik widmen. Gegen Ende meiner Amtszeit hatte ich schon einige Lieder komponiert, aus denen schließlich das Album »Banda Larga Cordel« entstanden ist.
Wie kam es zum Titel »Banda Larga Cordel«?
Banda Larga, also Breitband, ist ja die Möglichkeit, Inhalte auszutauschen – je breiter, desto mehr Quantität und Qualität des Cyberverkehrs. In diesem Sinne ist es ein politisches Manifest, Brasilien und die ganze Welt muss »breitgebandelt« werden. Die Cordel-Heftchenliteratur ist eine wichtige Gattung der Volksliteratur mittelalterlichen Ursprungs, die in Nordostbrasilien sehr populär ist.
In »La renaissance africaine« heißt es, Afrika sei »der Schlüssel für die echte Konstruktion der zivilisierten Welt«. Was für ein Unterschied zum gängigen Afrikabild!
Ja, das hängt mit der Haltung des Kolonisators zusammen, der hinging, um Afrika auszubeuten, es zu unterwerfen, die Reichtümer abzuziehen. Es ist der Kontinent, der die Techniken der Viehzucht, der Metallverarbeitung, des Fischfangs, des Hausbaus noch vor Europa und Asien entwickelt hatte. Afrika ist nicht vollständig als Wiege der Menschheit anerkannt, weil die europäischen Mächte es unterworfen haben. Doch das ändert sich, auch wegen der schwarzen Diaspora in Brasilien, den USA, der Karibik, Europa ...
Wann haben Sie sich ganz zu Ihren afrikanischen Wurzeln bekannt?
Das war 1977, als ich einen Monat lang am Festival der Schwarzen Künste in Lagos teilnahm. Dort habe ich auch Fela Kuti und Stevie Wonder kennengelernt.
Am Anfang Ihrer Karriere war der Rock 'n' Roll wichtiger ...
Ja, der Rock 'n' Roll brachte neue Haltungen, mehr Freiheit, Lust auf Veränderung. Die schwarzen US-Amerikaner, die den Übergang vom Rhythm-and-Blues über den Blues zum Rock 'n' Roll gemacht haben, Little Richard, Chuck Berry, B. B. King, Muddy Waters, Alfred King, die Bands aus den USA und England, die Rolling Stones, die Beatles. Heute haben wir eine sehr starke Rockszene in Brasilien, mit Verästelungen hin zum Pop, zum Samba, zu den ursprünglich brasilianischen Musikformen.
Was wollten Sie und ihre Freunde, die Tropicalistas?
Wir wollten das, was die Jugendlichen in den USA und Europa erobert hatten, für Brasilien nutzen, in der Musik, im Theater, im Verhalten, im Kino, wir wollten die brasilianische Kunst aktualisieren. Der Tropicalismo wollte den alten Kanon dekonstruieren. Der Tropicalismo hat die globale Dimension der brasilianischen Kultur verstanden.
Vor ein paar Jahren haben Sie ein ganzes Album mit Reggae-Songs aufgenommen. Was fasziniert Sie am Reggae?
Zuallererst die Musik, der originelle Rhythmus und das Timbre, wie die Musiker mit den Gitarren, den Trommeln und den Tasten vibrieren. Der Rhythmus, das ist, als ob diese Leute Säulen aufbauen, als ob sie einen neuen Bau errichten würden, eine neue, minimalistischere Architektur aus dem Blues und karibischen Rhythmen. Dann der Reggae als Musik des sozialen Widerstands von Ausgegrenzten in einer sehr hierarchisierten Gesellschaft wie der jamaikanischen, die Brücken, die er zu den afrikanischen Freiheitsideen geschlagen hat.
Ab 2000 haben Sie sich ganz intensiv der Musik des Nordostens zugewandt – warum?
Das sind ja meine Ursprünge. Ich bin im Landesinnern von Bahia aufgewachsen, im Sertão, immer mit der Musik des Nordostens, Luiz Gonzaga, Jackson do Pandeiro, unsere singenden Gitarristen, die Art des Gesangs, die Thematik des Nordostens, die karge Landschaft der Caatinga. Das ist mein erster großer Bezugspunkt.
Und was davon ist besonders wichtig?
Der Baião-Rhythmus, die arabischen Elemente der Rhythmik. Das Akkordeon, ein sehr wichtiges Element, der die nordöstliche Musik mit der ganzen europäischen Bauernmusik verbindet, aus Italien, Frankreich, Deutschland, mit der ganzen Mittelmeermusik. Deswegen war auch das Akkordeon das erste Instrument, das ich gelernt habe.
Interview: Gerhard Dilger
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