Erzählbarkeit, Erzählarbeit
Dem Schriftsteller Uwe Timm zum 70. Geburtstag
Zweimal hat Uwe Timm im Abstand von rund 20 Jahren seine Poetik vorgetragen: 1991/92 bei der Paderborner Poetik-Dozentur an der dortigen Universität, dann 2009 anläßlich der Frankfurter Poetikvorlesungen. Einmal hat Timm diese Vorträge unterm Titel »Erzählen und kein Ende« zusammengefasst, dann »Von Anfang und Ende« gesprochen. Wer wird darin nicht die Gemeinsamkeiten sehen.
Die Titel sagen es bereits: Es geht ums Ganze, ums große Ganze, Gott und die Welt – und was dies alles nicht nur im Innersten wieder zusammenhält: nämlich das Erzählen. Der Mensch ist ein erzählendes Wesen, und so ist es schließlich kein Wunder, dass – jedenfalls in unserem Überlieferungszusammenhang – am Anfang aller Anfänge auch das Wort steht, schließlich die große Erzählung, der Mythos, die Idee oder Ideologie vom Entstehen und Vergehen. Erzählend schaffen wir Ordnung und Überblick, geben den Dingen, weil sie lesbar sind, ihre Namen und den Ereignissen ihre Bezeichnungen. Darunter tut’s auch der Autor Uwe Timm nicht.
In »Erzählen und kein Ende« spricht er davon, dass erzählende Literatur »Wahrnehmungsmodelle für ein anderes Sehen, Hören, Riechen, Fühlen und auch Denken« liefert. Zugleich ist Literatur »Überfluss und Zufluss an neuen Möglichkeiten und damit an anderen Wirklichkeiten, an Alternativen zum Bestehenden.« Im Überfluss steckt bekanntlich das Überflüssige, also das Luxurierende, das zwar nicht zur Lebensnotwendigkeit dazu gehört, andererseits aber das Leben allererst lebenswert macht, es vermenschlicht. Dies, so scheint mir, rührt an den tiefsten ästhetisch-poetologischen Kern von Uwe Timms jahrzehntelanger literarischer Produktion, zu der Romane, Erzählungen, Novellen, Kinder- und Jugendbücher, Essays und Drehbücher gehören.
Von Anfang an wird Timms Schaffen von einigen zentralen Themenbereichen bestimmt: Da ist zum einen die Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit und Zeitgenossenschaft, die Beschäftigung mit der Studentenbewegung und deren Erbe (in den Romanen »Heißer Sommer«, »Kerbels Flucht«, »Rot« sowie der autobiografischen Prosa »Der fremde Freund«); da sind auf der anderen Seite Bücher, die vor allem der Erinnerungsarbeit geschuldet sind, ein Roman »Morenga«, der sich mit dem deutschen Kolonialismus beschäftigt, oder Romane, Novellen wie »Die Entdeckung der Currywurst«, »Am Beispiel meines Bruders« und »Halbschatten«, die sich mit den verschiedensten Facetten des deutschen Faschismus samt dessen ideologischen Weiterwirken befassen.
Besonders wichtig ist dabei der Aspekt der Alltäglichkeit – eine Kategorie, die Timm in seinen Paderborner Poetikvorlesungen in Anschlag gebracht hat. Weil im Alltag das gärende Ferment der Geschichte treibt, oft genug untergründig und kaum zu bemerken.
In Timms neuem Bändchen, das die fünf Frankfurter Poetikvorlesungen enthält, tritt der Schriftsteller noch persönlicher, noch subjektiver auf. Er berichtet über das Entstehen und die Arbeit an seinen verschiedenen Erzähltexten, nicht ohne dabei in Seitenblicken auch seine biografhische Entwicklung Revue passieren zu lassen: ein Kürschnersohn, der auf Umwegen zu Abitur und Studium gekommen ist, sich – kurzzeitig – auf die Seite der organisierten Arbeiterbewegung schlägt und in die DKP eintritt, der parallel zum Studium mit literarischen Arbeiten beginnt, dann die AutorenEdition im Bertelsmann-Verlag mitbegründet, einem realistischen Schreiben vehement das Wort redet, um schließlich nach schmerzhaften Erfahrungen zur lebensbestimmenden Maxime zu kommen ,dass er sich – etwa seit 1980 – »als Freibeuter jeglicher ideologischer Konterbande« versteht.
Entscheidender Schreibanlass, so Timm, sei immer das »Bedürfnis der Selbstbefragung« gewesen. »Ein guter Text hat immer ein Mehr, einen Überfluss an Bedeutung, der über das hinausgeht, was der Autor ihm zu geben glaubte. Und dieses Mehr kann der literarische Text bei neuen Fragen und in neuen Zeiten offenbaren.«
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