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Jagd auf die Jäger
Zeit des Zorns
Teheran, eben vor den letzten Wahlen. Ein Mann arbeitet in der Nachtschicht, und weil er aus Gründen im Gefängnis war, die den Film nicht weiter interessieren, hat seine Bitte um Versetzung in die Tagesschicht wenig Aussicht auf Erfolg. Weil er nachts arbeitet, hat Ali auch nach der Entlassung aus dem Gefängnis keine Chance auf ein ausgefülltes Familienleben. Frau und Tochter sieht er nur sporadisch, morgens nach der Arbeit, zwischen Tür und Angel, vor der Schule. Oder abends, beim Frühstück. Wenn er Entspannung braucht vom Verkehr der Großstadt – die Wohnung der Familie liegt an einer Schnellstraße, die absurde Freitreppe vor dem Hochhaus führt direkt in den Schlund eines Tunnels - und der Leere seiner schlaftrunkenen Tage und einsamen Nächte, fährt er in die Hügel hinter der Stadt und geht auf die Jagd.
Noch jagt Ali Tiere. Bald wird sich das ändern. Denn eines morgens findet er die Wohnung leer vor und die Katze hungrig. Von Frau und Tochter keine Spur. Nach stundenlangem Warten in den Korridoren eines Polizeireviers erfährt Ali, dass es Demonstrationen gegeben habe in der Stadt. Demonstrationen und Tote. Von beiden Seiten sei geschossen worden, wer da für welche »Kollateralschäden« verantwortlich sei, lasse sich kaum mehr sagen. Eine der Toten sei möglicherweise seine Frau. Im Leichenschauhaus bricht Ali vor der offenen Schublade zusammen. Von seiner Tochter weiter keine Spur. Ali – war sein Gefängnisaufenthalt politisch motiviert? – erfährt keine sonderlich fürsorgliche Behandlung durch die Polizei. War er am Ende selbst einer der schießwütigen Demonstranten?
Nun weiß jeder Leser und Zuschauer von Nachrichten über die letzte Wahl in Iran, über die bannerschwenkenden, freudig erregten Wahlbürger im Vorfeld des Betrugs, über die Begeisterung, die unter den jugendlichen Oppositionsanhängern mit ihren vielen Zukunftshoffnungen umging, dass die Schüsse, als sie schließlich fielen, nicht von der Seite der Demonstranten kamen. Nach der Wahl nicht, und vor der Wahl schon gar nicht. Die offizielle Version vom Kollateralschaden einer zu unterdrückenden Gewaltbereitschaft der »Aufständischen« ist nichts als das: eine offizielle Verbrämung von obrigkeitlich verordneter Behördenwillkür. Ali, emotional in die Ecke getrieben, greift zur Waffe. Und richtet sie nun nicht mehr gegen Tiere im Hinterland der großen Stadt. Sondern gegen Polizeivehikel auf deren Autobahnen. Dann beginnt die Jagd. Auf Ali. Der hat nach seinem mehrfachen Polizistenmord kaum mehr eine Zukunft. Der Instinkt des Gejagten treibt ihn trotzdem aus der Stadt.
Regisseur Rafi Pitts ist kein Unbekannter auf den Filmfestivals der Welt. Schon mit »It's Winter« war er im Wettbewerb der Berlinale vertreten, mit »Zeit des Zorns« kehrte er zurück. Und übernahm diesmal auch selbst die Hauptrolle dieser kühlen Rachefantasie. Die führt seinen Helden sehr weit von dem weg, was Pitts selbst sich für sein Land erträumt. Was aber nicht (nur) an Ali liegt. Sondern an der Gesellschaft, in der er sich gefangen findet.
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