Was an der Donau nicht zusammenpasst
Gewinner und Verlierer von zwei Jahrzehnten Marktwirtschaft
Viele Menschen in Ungarn fühlen sich nicht nur als Verlierer des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbaus der vergangenen beiden Jahrzehnte, sondern sie sind es auch. Dazu zählen auf jeden Fall jene Gruppen, die aus dem kleiner gewordenen »Arbeitsmarkt« herausgefallen sind. Unsicherheit, Armut und der Verlust gesellschaftlicher Funktion und Anerkennung sind die Folge. Auffällig ist beispielsweise, wie viele Menschen die Flucht in die Frühverrentung antraten. Seit den 90er Jahren entfällt, ungeachtet einer restriktiven Rentenreform, mehr als die Hälfte aller Renteneintritte auf Frühverrentungen.
Verlierer gibt es aber auch unter jenen, die den Systemwechsel als Chance verstanden. Ein Drittel derer, die sich seit 1990 als Unternehmer versucht haben, sind heute wieder abhängig beschäftigt. Sechs von zehn Bürgern, die sich 1992 am unteren Ende der gesellschaftlichen Pyramide befanden, sind heute noch in derselben Lage. Umgekehrt hat jeder zweite Haushalt, der sich 1992 zum obersten Viertel der gesellschaftlichen Pyramide zählte, diese Position mittlerweile an Konkurrenten abgeben müssen.
Was wollen die Wähler?
Unter den Anhängern der aussichtsreichen Parteien finden sich, wenn auch in unterschiedlicher Zahl, auf jeden Fall Vertreter all dieser Gruppen. Und die Wähler wissen recht genau, was sie von den Parteien ihrer Wahl erwarten. Gemeinsam ist ihnen, mit wenigen Ausnahmen – etwa in der Steuer- und zum Teil in der Wohnungspolitik –, dass sie hohe Erwartungen gegenüber dem Staat hegen. Vergleicht man zudem die Wünsche der Wähler des konservativen Bundes Junger Demokraten (FIDESZ) mit jenen der Sympathisanten der Ungarischen Sozialistischen Partei (USP), erlebt man manche Überraschung. Die Unterschiede entsprechen keineswegs den gängigen Rechts-Links-Klischees. Die FIDESZ-Sympathisanten erwarten nämlich in zentralen Bereichen unverkennbar mehr Staatseingriff und mehr vom Staat herbeizuzaubernde Lösungen gesellschaftlicher Probleme als die Wähler der abgewirtschafteten sozialistischen Konkurrenzpartei.
Ablesbar an einer von 0 bis 100 reichenden Skala kommen die die FIDESZ-Wähler im Bereich Arbeit mit ihren Wünschen an den Staat auf 70 Punkte, während sich die USP-Wähler mit 64 Punkten begnügen. Bei der Bildung beträgt das Verhältnis gar 77 zu 54, bei der Sozialpolitik 64 zu 60, bezüglich der Landwirtschaft 64 zu 51. Bei der Frage nach der staatlichen Verantwortung für das Schicksal ganz allgemein halten die FIDESZ-Sympathisanten bei 50 Punkten gegenüber nur 38 bei den USP-Anhängern. Dieser letzte Punkt ist übrigens der einzige, in dem sie mit den Wählern der im Verschwinden begriffenen liberalen Partei genau übereinstimmen. Dabei hatte sich gerade diese Partei ausschließlich dem Individualismus und der Selbstverantwortung verschrieben. Besonders auffallend ist außerdem, dass die FIDESZ-Wähler mit ihren Positionen in den Bereichen Schicksal, Arbeit, Bildung und Landwirtschaft ein sehr ähnliches Profil wie die Sympathisanten der post-kommunistischen Arbeiterpartei aufweisen.
Was bieten die Parteien?
Nun wird von der Demokratie gemeinhin erwartet, dass die Parteien, weil sie alle vier Jahre auf Stimmenfang gehen müssen, auf Bedürfnisse und Wünsche ihrer Anhängerschaft reagieren. Ungarn aber bietet diesbezüglich in den Wochen vor den Parlamentswahlen am Sonntag ein trauriges Bild. Zwar singen alle Parteien das Lied der fleißigen Arbeit, aber keine denkt auch nur ansatzweise über direkten Staatseingriff beispielsweise in den Arbeitsmarkt nach, im Gegenteil: Der Staat selbst soll weniger Menschen beschäftigen und weniger Geld ausgeben, mit dessen Hilfe Menschen beschäftigt werden könnten. Sparen und nochmals sparen ist angesagt, und dem wird sich auch Viktor Orbán, der Führer des FIDESZ, der die Wahlen haushoch gewinnen wird, nicht entziehen können. Den Arbeitsmarkt sollen nach dem Willen beider Großparteien ohnedies die Unternehmer richten. Deswegen will man ihnen wahlweise mit Steuererleichterungen, so der FIDESZ, und Investitionen in die Ausbildung der Ressource Arbeitskraft, wie die USP immer wieder hervorhebt, unter die Arme greifen.
Im sozialen Bereich spricht auch FIDESZ bestenfalls von der Sicherung des Bestehenden, und dies nur in Einzelbereichen, namentlich für die Rentner. Ansonsten setzt der künftige Wahlsieger bei der sogenannten Bekämpfung der Armut genauso auf die Stärkung des Arbeitsethos als Voraussetzung für den Zugang auch nur zu minimalen Leistungen wie die für ihre Zögerlichkeit beim Sozialabbau viel gescholtene USP.
Im Übrigen hat der FIDESZ sich nicht einmal die Mühe gemacht, ein eigenes Wahlprogramm zu erstellen. Die landesweite Plakatkampagne beschränkt sich auf die Beschwörung des bevorstehenden Sieges. Und das wird ein Sieg der Partei und nicht der Wähler sein. Letztere werden eine weitere herbe Enttäuschung erleben.
Für die nächste Etappe des ungarischen Dramas hat die ultrarechte Jobbik ihre Netze schon ausgelegt. Das Programm dieser aufsteigenden politischen Kraft verdient es, genau gelesen zu werden. Denn Schelte und Beschimpfung, wie sie Jobbik überall in Europa erntet, ist nicht genug, eben weil Jobbik in der Bevölkerung verbreitete Befindlichkeiten in all ihrer Widersprüchlichkeit aufgreift und auf ihre Weise zum Ausgangspunkt politischer Mobilisierung macht.
Letzte Umfrageergebnisse
Das Wahlsystem in Ungarn, eine Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht, gehört zu den kompliziertesten Europas. Die Parlamentswahlen finden in zwei Wahlgängen – am 11. und 25. April – statt. Vor der ersten Runde hat sich der Trend zu einem Rechtsrutsch verfestigt. Der oppositionelle rechte Bund Junger Demokraten (FIDESZ) unter Viktor Orbán, der bereits 1998 bis 2002 Premier war, kommt nach einer Meinungsumfrage des Budapester Instituts Szonda-Ipsos auf 62 Prozent der Stimmen.
Die Ungarische Sozialistische Partei (USP), die das Land in den vergangenen acht Jahren mit wechselnden Ministerpräsidenten (Péter Medgyessy, Ferenc Gyur-csany, Gordon Bajnai) regiert hat, kann dieser Umfrage zufolge lediglich mit 20 Prozent der Stimmen rechnen. Ihr Spitzenkandidat ist der 36-jährige Attila Mesterházy.
Aussichten auf den Einzug in die Nationalversammlung werden darüber hinaus nur noch der rechtsextremen Partei Jobbik (Die Besseren) eingeräumt. Sie würde auf 13 Prozent der Stimmen kommen. (dpa/ND)
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