Erst denken, dann – sprechen
Friedrich Schorlemmer über Richard von Weizsäcker – der am Donnerstag 90 Jahre alt wird
Seinen würdigen Umgang mit dem Wort bewundere ich geradezu.
Nicht zu viel reden, sondern etwas Zutreffendes knapp sagen, in einer einfachen Sprache, in einfachen Sätzen, die nichts vereinfachen.
Die Rede Richard von Weizsäckers am 3.Oktober 1990 verdiente es, am 3.Oktober 2010 ohne jeden Zusatz und ohne jede Streichung, in Funk und Fernsehen wiederholt zu werden.
Diese Rede hat das Pathos der Nüchternheit und der menschlichen Wärme zugleich. Sie ist durchwoben von genauer Kenntnis, von analytischer Klarheit, von Dankbarkeit, von ausstrahlender Zuversicht, von historischer Differenzierungsfähigkeit, von ehrlichem Benennen des Trennenden, sie betrieb eine den Selbstwert stärkende Hervorkehrung des Verbindenden von Ost und West und versah uns mit zutreffender Aufgabenbeschreibung. Nämlich: in der Freiheit zu bestehen, die Freiheit als das kostbarste Gut anzuerkennen und zugleich klar zu machen, dass Freiheit nicht Lossagung von Gerechtigkeit sein darf.
Er wusste, welche geistige Dürre die DDR als Staatssystem erzeugt hatte und wie sehr es die Kunst gewesen war, die der Seele Nahrung gegeben hatte, und wie die Kirchen den Raum der Freiheit, der inneren Freiheit, zu erweitern vermochten.
Er spricht an diesem 3. Oktober mit großem Respekt von der Leistung der Ostdeutschen, die eine Einparteien-Dikatur abgeschüttelt und Strukturen der Demokratie aus eigener Kraft aufgebaut haben.
Er gibt zu bedenken, was wir den Osteuropäern zu danken haben und welche historische Erblast wir Deutschen zu tragen hatten und welche Verantwortung wir, mit der Einheit, weiter zu übernehmen haben. »Die Geschichte hat es diesmal gut mit uns Deutschen gemeint. Umso mehr haben wir Grund zur gewissenhaften Selbstbesinnung.«
Ein aristokratischer, also würdevoller Umgang mit der deutschen Sprache zeichnet ihn aus. Das kann auch herrisch sein – im Sinne von »darüber gibt es doch wohl keinen Zweifel«.
Eine der großen Begabungen dieses Mannes, der reden kann, ist – Zuhören-Können. Neugierig. Genau. Zugewandt. Mit- und weiterdenkend. Er weiß zu entwirren, zu bündeln, weiterzuführen, zu vertiefen. Seine messerscharfe Urteilsfähigkeit ist mit umfassendem Wissen angereichert. Seine kritischen Urteile über andere verzichten nicht auf einen bleibend menschlichen Respekt (mit Ausnahmen, da kann er dann unwirsch werden. Zu Recht.)
Er kann gut kritisieren, aber ebenso gut ermuntern. Selbst in verworrenen Diskussionen weiß er einander stützende Gedankenlinien zu entdecken und Dinge so zusammenzufassen, dass beinahe alle zufrieden sind. Ich hab’s erlebt, nach stundenlangem Hin und Her, ohne selber in der Lage gewesen zu sein, eine gemeinsame Linie des Gesprächs erkennen zu können.
Er kann dem gemeinen Mann auf der Straße durchaus nahe sein, ohne sich populistisch gemein zu machen. Auch das hab ich erlebt, auf den Straßen der Lutherstadt Wittenberg, 1992. Da wurde mir bestätigt, wie sehr er der Präsident war, und wie schnell er auch unser Präsident im Osten geworden war.
Wer wissen will, was ein Protestant im gelebten »Priestertum aller Gläubigen« ist, der sehe darauf, wie Richard von Weizsäcker seine Begabung in Verantwortung vor Gott und den Menschen – auch mutig! – eingesetzt hat, Jahrzehnt um Jahrzehnt.
Weil er die Lage umfassend zu analysieren und sich kompetenten Rat zu holen versteht, vermochte er es, oftmals vorausschauend zu denken und zu reden. Am 25. September 1983 sprach der Regierende Bürgermeister von Berlin-West auf dem Wittenberger Marktplatz vor etwa 15 000 Zuhörern. Bei dieser Ansprache hat er uns Ostdeutsche in ungewöhnlicher Weise berührt, getröstet und ermutigt. Er sprach einerseits seinen Respekt uns gegenüber aus, stärkte uns in unserer Eigenständigkeit und vergewisserte uns gleichzeitig unserer besonderen Verbundenheit.
Als er über die Verbindung der Deutschen mitten in der Teilung und über die besondere Verbundenheit, ja, die Verantwortungsgemeinschaft der Christen sprach, schämten sich viele ihrer Tränen der Rührung und Berührung nicht. »Wir leben hüben und drüben unter verschiedenen Bedingungen, gesellschaftlichen Systemen und persönlichen Spielräumen. Wir respektieren dies gegenseitig selbstverständlich so, dass keiner dem anderen einen unangemessenen Rat geben will. Aber wir sind hüben und drüben Deutsche, wenn auch in zwei Staaten. Uns verbindet mehr als Sprache und Kultur und die Haftung für unsere Geschichte. Die wesentlichen Ziele stellen sich uns gemeinsam … es fängt beim Einfachsten an: Wir atmen dieselbe Luft; sie macht an Grenzen nicht halt. Sie reinzuhalten, ist unser gemeinsames Interesse … der Frieden, um den wir uns sorgen und bemühen, ist nicht teilbar zwischen Ost und West … Armut und Hunger lindern, Gerechtigkeit in der Welt fördern, ist unsere gemeinsame Verantwortung in der Industriegesellschaft, aber auch in unseren Familien und Gemeinden sind viele unserer Schwierigkeiten gar nicht so unterschiedlich, wie oft geglaubt wird. Junge Menschen bei Ihnen und uns kapseln sich manchmal ab, oder sie begehren gegen das auf, was sie als unglaubwürdig empfinden bei uns Älteren und als mangelnde Verantwortung gegenüber der Zukunft. Ältere bei Ihnen und uns müssen sich dem stellen und nicht nur mitträumen, sondern differenziert denken, sorgfältig begründen, verantwortlich handeln … die materiellen Güter des Lebens sind nicht zu verachten, aber sie erfüllen das Leben nicht … wir haben diesen Wittenberger Kirchentag mit der lebhaftesten Anteilnahme miterlebt und mitgefeiert. Wir haben hier weit mehr empfangen als mitgebracht.«
Dass wir hüben und drüben Deutsche sind und unter einem Himmel leben, das hatte auf dem Territorium der DDR uns seit Jahrzehnten niemand mehr gesagt. Und welch einen Respekt vor uns sprach aus diesen Sätzen!
Mir fiel schon damals auf, wie genau er kurze Pausen zu machen versteht, mit welch wenigen Mitteln er ganz große rhetorische Wirkung erzielt – ohne je irgendwie überzuschnappen. Wer seine Reden hört, versteht auch noch die Unter- und Oberzeilen des Gesagten. Aber auch in der Zeile selber ist alles gesagt.
Es ging uns nahe damals. Wir hatten das Gefühl, dass wir nicht vergessen sind. Und hatten das wärmende Empfinden, zueinander zu gehören und einander verständlich machen zu können. Dieser Präsident konnte dann 1990 auch klare und klärende Worte über das Leben im Osten sagen, ohne uns in irgendeiner Weise von oben her zu beurteilen, zu bewerten oder gar abzuwerten.
Er nimmt lange etwas auf, ehe er spricht. Und was er dann sagt, wirkt zurückhaltend, bescheiden und doch irgendwie unmissverständlich – deutlich. Daran müssen die Postmodernen und die Zyniker sich natürlich immer reiben.
Als noch niemand von uns ahnen konnte, was nur zwei Jahre später, 1989, passieren würde, habe ich in der ökologischen Wüste bei Leipzig, die Riesenschlote von Espenhain vor Augen, auf einem Umweltseminar in Mölbitz über Josua gesprochen, der neben Mose der Begleiter durch die vierzig Jahre Wüste gewesen war. Ich hatte mir die Frage gestellt, ob wir einen Josua bräuchten.
Ja, ich habe den Eindruck, dass wir Menschen brauchen, die vordenken, die vorangehen, die zu ideellen oder praktischen, zu philosophischen oder zu politischen Leitfiguren werden, begabte und mitreißende, fachlich und menschlich überzeugende Menschen, die das richtige Wort zur richtigen Zeit zu sagen wissen. Menschen, die wissen, wo die großen Schwierigkeiten liegen, und die wissen, wo das Land der Hoffnung liegt. Kennen Sie solche Zeitgenossen?
Ich denke an die Brüder Carl-Friedrich und Richard, an Michael Sergejewitsch und an Valentin, an das Ehepaar Christa und Gerhard, an Winnie und Ernesto, an Alexander, Jacek, Vaclav, Willy und Andrej …
Es muss nicht immer Josua sein – es sind Menschen neben uns, die durchblicken, andere sammeln, Mut machen, Wege zeigen.
Das Dunkle darf nicht verschwiegen, aber es muss nicht alles eingedunkelt werden. Noch heute gilt, was von Weizsäcker vor zwanzig Jahren vermerkte: »Im westlichen Teil Deutschlands haben wir uns daran gewöhnt, dass unsere Ordnung politisch, wirtschaftlich und sozial den Verhältnissen in der DDR überlegen war. Den Menschen in der DDR waren und sind wir als Menschen in keiner Weise überlegen. Mit gleichen Rechten und Pflichten werden wir aus Ost und West einem geeinten Deutschland angehören. Wie anders, als in gleichberechtigtem Zusammenwirken, können wir dieses Ziel erreichen?«
So war es nicht verwunderlich, dass er nur drei Tage nach dem Mauerdurchbruch 1989 in der Westberliner Gedächtniskirche gegenüber allen, die nur von ökonomischen Lasten und politischen Verwerfungen reden wollten, sagen konnte: »Das kostbarste Gut, das die Menschen im andern Teil der Stadt und in der DDR durch ihre eigene Courage errungen haben, ist die Befreiung von erzwungener Lüge, ist die Freiheit zur Wahrheit. Nun gilt es, in ihr zu bestehen.« Die Westdeutschen rief er auf, bereit zu sein: mit offenem Herzen und offenen Türen, aber eben nicht mit der westdeutschen Tür dort ins Haus zu fallen. Er sah und sieht klar, dass die Freiheit keineswegs vor Unarten, ja vor Missbrauch bewahrt. »Indem wir einander dienen, erfüllen wir unser Leben in der Freiheit.« So spricht ein Politiker, der Christ ist und Brücken der Verständigung – auf Augenhöhe – baut.
Er sah frühzeitig, dass es kein leichter Weg zur Wirtschafts- und Sozialunion sein würde und zu allem, was wir den Weg zur »inneren Einheit« nennen. Selbst für die inneren Differenzen bei den friedlichen Revolutionären der DDR hatte er einen richtigen Blick. Er übersah keineswegs, dass es einerseits einen verständlichen Wunsch nach materieller Verbesserung gab, andererseits eine Haltung kritischer Distanz bei vielen, denen »neben dem materiellen Wohlergehen der politisch-geistige Sinn der friedlichen Revolution besonders am Herzen« lag und liegt.
Dieses Potenzial kritischen Geistes sah er als wichtig für die Lebendigkeit der Demokratie in Deutschland, und er analysierte klar, in welch problematischem inneren Zustand unsere Demokratie ist, wenn die einen parteilich und machtbesessen handeln und die anderen sich parteien- und politikverdrossen abwenden.
Er wusste sich stets hineinzudenken in ganz unterschiedliche Lebensbereiche, ob er das Wort nun vor der Internationalen Automobilausstellung oder zur Woche der Welthungerhilfe ergriff, ob auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall oder an der Universität der Bundeswehr, ob zu 500 Jahre Post oder zu 1000 Jahre St. Stephan in Mainz. Sicher hat der Präsident gute Zuarbeit zu nutzen gewusst, aber zugleich ist in jeder Rede deutlich geworden, dass er Hand angelegt hat und die Reden ganz seinem (Denk-)Stil entsprachen.
Nicht hoch genug war und bleibt zu bewerten, wie er als einer, der 1939 als Soldat beim Überfall auf Polen dabei war, die Entspannungspolitik von Brandt, Scheel und Bahr unterstützte, damals auch gegen die große Mehrheit in seiner Partei. Bereits an der Ostdenkschrift der EKD von 1965 hatte er mitgewirkt, die Aussöhnung mit dem Osten vorangetrieben.
Dieser Aristokrat in bestem Sinne hatte und bewährte Haltung, gab und gibt mit Haltung Halt.
RICHARD VON WEIZSÄCKER wurde am 15. April 1920 in Stuttgart geboren. Er studierte in Oxford und Grenoble. Bis 1945 Soldat, später Hauptmann, Kriegsteilnahme in Polen, vor Moskau und vor Leningrad. 1957 Abteilungsleiter bei Mannesmann. Bankmanager. Mitglied der Geschäftsführung des Chemie- und Pharmaunternehmens Boehringer Ingelheim. Seit 1954 CDU-Mitglied. 1981 Regierender Bürgermeister von Berlin. 1984 Bundespräsident.
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