Auf gut bestelltem Feld

Gespräch mit den designierten Parteivorsitzenden der LINKEN Gesine Lötzsch und Klaus Ernst

  • Lesedauer: 19 Min.
Die Mitglieder der LINKEN haben in einer Urabstimmung entschieden, dass ihre Partei auch künftig im Duett geführt werden soll. Gewählt wird das Nachfolgeteam von Lothar Bisky und Oskar Lafontaine in drei Wochen auf dem Parteitag in Rostock. Zur Wahl stehen auf Vorschlag des bisherigen Parteivorstandes: GESINE LÖTZSCH und KLAUS ERNST. Gesine Lötzsch (48) und Klaus Ernst (55), beide Bundestagsabgeordnete, sollen auf dem Parteitag Mitte Mai in Rostock das Erbe von Oskar Lafontaine und Lothar Bisky übernehmen, die beide nicht wieder zur Wahl antreten. Die Philologin und Mutter zweier Kinder wie der Diplom-Volkswirt und IG-Metall-Gewerkschaftssekretär sind guten Mutes, das hinzubekommen. Und wollen vieles weiter, manches aber auch anders machen als ihre prominenten Vorgänger. Mit den beiden Kandidaten sprachen Gabriele Oertel und Jürgen Reents.
Auf gut bestelltem Feld

ND: Mit 84,5 Prozent haben die Mitglieder der LINKEN künftigen Doppelspitzen in der Parteiführung zugestimmt. Sind Sie erleichtert, zufrieden?

Lötzsch: Das ist ein sehr gutes, weil eindeutiges Ergebnis. Wir sollten auch in Zukunft über wichtige inhaltliche Fragen die Mitglieder direkt befragen. Jetzt brauchen wir uns auf dem Parteitag nicht über die Satzung zu streiten, sondern können uns stärker auf die Probleme konzentrieren, die die Menschen in unserem Land beschäftigen.

Ernst: Ich begrüße dieses klare Votum der Basis. Jetzt hat der Parteitag das Wort.

Mit 48,3 Prozent war die Beteiligung an der Urabstimmung andererseits nicht berauschend, woran lag das?

Lötzsch: Augenscheinlich sind solche Strukturfragen für viele Mitglieder nicht so dringlich, wie inhaltliche Fragen. Die Genossinnen und Genossen wollen jetzt die Probleme anpacken.

Im Westen war die Beteiligung deutlich geringer als im Osten. Ist man der Basisdemokratie dort ein wenig müde?

Ernst: Nein, ich glaube vielmehr, dass diese Satzungsänderung nicht die Art von Basisdemokratie ist, die man sich vorstellt. Viele möchten solche Urabstimmungen lieber zu wichtigen politischen Inhalten haben, weniger zur Frage der Partei-Organisation. Sie sagen: Jetzt hört endlich auf mit den Personalfragen, wir wollen Politik machen. Unsere Parteimitglieder sind schließlich nicht aus Jux und Dollerei in der LINKEN, sie wollen, dass wir die Lebensverhältnisse im Land verändern.

Teilen Sie diese Meinung?

Ernst: Dass wir uns darauf konzentrieren müssen, Änderungen im Land zu bewirken: natürlich! Was die Urabstimmung zur Doppelspitze betrifft, waren Gesine und ich uns jedoch einig, dass das eine vernünftige Sache ist. Damit wurden quälende Querelen beendet.

Gesine Lötzsch gab unlängst zu Protokoll, dass es ihr als Norddeutsche nicht immer leicht fällt, die ganze Bandbreite der Dialekte in der Linksfraktion zu verstehen. Insbesondere mit dem Schwäbischen und dem Bayerischen habe sie Probleme. Sind das die geringeren Verständigungsprobleme des vermutlich künftigen Führungsduos?

Lötzsch: Die vielen Dialekte stehen auch für eine große Vielfalt. Ich habe nicht den Eindruck, dass uns unsere Dialekte hindern könnten, gut zusammen zu arbeiten.

Klaus Ernst, Sie erzählen gern die bizarre Geschichte, Sie hätten beim ersten Zusammentreffen vor Jahren in Dagmar Enkelmann die Sekretärin von Lothar Bisky vermutet. Haben Sie Schwierigkeiten mit starken Frauen und gleichberechtigter Führung?

Ernst: Ich habe mit dieser Episode lediglich erklären wollen, wie wenig ich damals die PDS und auch die handelnden Personen gekannt habe – wie unbedarft wir waren. Was die quotierte Doppelspitze angeht, kann ich nur sagen, dass ich von Anfang an unbedingt dafür war. Man muss berücksichtigen, wie sich unsere Partei entwickelt hat. Da waren am Anfang mit Oskar Lafontaine und Gregor Gysi zwei medial ganz besonders wirksame Menschen am Werk. Wenn ich eine Frau gewesen wäre, hätte ich da nicht um den zweiten Vorsitz spielen wollen. Und ohne Lothar Bisky, das will ich auch sagen, würde es die Partei nicht geben. Dessen herausragende Rolle bei der Fusion von PDS und WASG ist unschätzbar. Bei uns beiden ist das jetzt anders. Wir können auf einer gleichberechtigten Ebene agieren.

Treten Sie ein leichtes oder ein schweres Erbe an, mehr Last oder mehr Lust?

Lötzsch: Wir haben uns beide nicht danach gedrängelt, sondern sind vorgeschlagen worden. Jetzt stelle ich mich der Aufgabe und werbe um Zustimmung. Ich glaube auch nicht, dass wir uns in Konkurrenz zu anderem Führungspersonal in der Bundesrepublik unbedingt verstecken müssen.

Und wie ist das mit dem Erbe?

Lötzsch: Wir übernehmen ein gut bestelltes Feld. Wichtig ist für mich, dass wir an unseren Zielen festhalten und sie umsetzen. Das heißt, dass wir so lange für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan kämpfen, bis er endlich stattfindet. Das heißt, dass die LINKE so lange für den gesetzlichen Mindestlohn streitet, bis wir ihn wirklich haben, dass wir so lange gegen Hartz IV angehen, bis es Hartz IV nicht mehr gibt, erst locker lassen, wenn die Rentenformel wieder hergestellt und die Angleichung der Rentenwerte Ost an den Rentenwert West durchgesetzt ist. Wir haben sehr gute Startbedingungen, weil wir eine sehr hohe Wählerzustimmung für unsere klaren Aussagen haben. Das ist für mich übrigens die wichtigste Lehre: Immer, wenn wir nicht klar gesagt haben, was wir wollen, haben wir Stimmen verloren. Und immer, wenn wir gesagt haben, was wir wollen, und erst an zweiter Stelle über die anderen Parteien geredet haben, haben wir gewonnen. Außerdem sind Lafontaine und Bisky nicht aus der Welt. Wir setzen darauf, dass sie uns weiterhin mit Rat und Tat unterstützen. Und das machen sie gerade im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen.

Was möchte das Duo Lötzsch-Ernst denn anders machen als die Vorgänger?

Ernst: Entscheidend ist, dass wir inhaltlich den Kurs fortsetzen. Aber wir wollen uns noch mehr als in der Vergangenheit um die Partei kümmern – aus der Phase der Gründung müssen wir in die Phase der Konsolidierung der Partei gelangen. Das ist kein Vorwurf an die Vorgänger, weil die das gar nicht leisten konnten. Da trägt immer die gesamte Führung Verantwortung. Wir sind, seit es die LINKE gibt, von Wahl zu Wahl geschlittert und haben sie schließlich auch alle gewonnen. Aber ich bin überzeugt, dass wir uns jetzt mehr um den Aufbau der Partei, um die Mitglieder kümmern müssen. Wir werden uns mehr bemühen, eine vernünftige Diskussionskultur hinzukriegen und eine Linie zu entwickeln, die die Partei möglichst in ihrer großen Mehrheit akzeptiert. Das wird ein Schwerpunkt unserer Arbeit sein, weil die kulturellen Unterschiede zwischen den neuen und alten Ländern doch noch groß sind – größer, als ich vor zweieinhalb Jahren dachte. Dies zusammenzuführen, wird unsere Aufgabe sein.

Gelegenheit dafür gibt die Programmdebatte. Viele halten den Entwurf für verbesserungsfähig.

Ernst: Aus meiner Sicht ist das ein guter Entwurf und es hat mich gewundert, wie schnell schon die ersten kritischen Einwände kamen. Ich halte den Entwurf für eine gute Diskussionsgrundlage. Jetzt müssen wir organisieren, dass möglichst viele Leute über die zentralen inhaltlichen Fragen wie Mitbestimmung, Ausweitung der Arbeitnehmerrechte durch Eigentum am Unternehmen, die Frage der Banken usw. diskutieren. Mir ist dabei wichtig, dass man die Debatte nicht nur mit den eigenen Genossen, sondern mit anderen führt, mit denen man schließlich gemeinsam Politik machen will.

Sähen Sie Ihre Aufgabe als Vorsitzende mehr in die Partei hinein als nach außen gerichtet, weil die Außenwirkung ohnehin mehr durch die Bundestagsfraktion bestimmt wird?

Lötzsch: Die Hauptaufgabe ist natürlich auch für Parteivorsitzende das Wirken in der Gesellschaft, für unsere Ziele zu werben. Was die Partei selbst betrifft, werden wir durch die geplante große Teambildung eine starke Aufgabenverteilung haben. Sowohl die beiden Geschäftsführer als auch die extra dafür dann einzusetzenden Parteibildungsbeauftragten müssen sich intensiv um den Parteiaufbau und um die Kampagnenfähigkeit kümmern. Aber in der Tat können sich einige Veränderungen gegenüber unseren Vorgängern ergeben, weil sehr viele Genossen zu Oskar und Lothar aufgeblickt haben und sich häufig gar nicht trauten, sie anzusprechen. Das kann man auch als Vorteil nutzen. Entscheidend wird sein, dass die gewählten Gremien ihre Arbeit machen und Entscheidungen dort getroffen werden, wo sie satzungsgemäß zu treffen sind.

Ernst: Wenn ich sage, wir müssen uns um die Partei mehr kümmern, heißt das nicht, dass wir nicht auch nach außen wirken wollen. Das muss natürlich auf dem selben Niveau bleiben und sogar noch verstärkt werden. Wir müssen uns aus dem Fenster lehnen für die Partei. Aber zusätzlich müssen wir uns mehr, als das in der Vergangenheit möglich war, um den Aufbau, um die Kultur, und neu um die Programmdebatte kümmern.

Lötzsch: Wir müssen mehr daran arbeiten, dass die Gremien ihrer Funktion nachkommen und nachkommen können, dass die Partei ein Zentrum hat und dass wir Fraktion und Parteivorstand eng verzahnen. Der Parteivorsitz ist ein Ehrenamt und wir sind beide auch gewählte Abgeordnete – und ich lege Wert darauf, direkt gewählt worden zu sein und möchte weiterhin auch als Abgeordnete im Bundestag und in meinem Wahlkreis in Berlin-Lichtenberg wirken.

Nicht alle in der Partei sehen diese Ämterhäufung gern. Kritisiert wird, dass für alle drei Doppelspitzen nur Bundestagsabgeordnete vorgeschlagen sind. Ist an dem Einwand was dran?

Lötzsch: Ich weiß um diese Sorge. Für den Rostocker Parteitag gibt es einen Antrag, dass keine Abgeordneten Mitglieder in Vorständen sein dürfen. Das Anliegen ist verständlich, doch die Wirkung wäre genau nicht im Sinne der Antragsteller. Es würde zwangsläufig dazu führen, dass die Fraktion die Partei regiert und das wollen wir nicht.

Ernst: Die Fraktion würde sich dadurch Stück für Stück verselbständigen. Es muss schon so sein, dass die Führung der Partei auch in der Fraktion wirkt. Ich bin nicht dafür, dass Parteivorstand und Fraktion vollkommen identisch sind, aber es darf auch nicht sein, dass der Parteivorstand mehr oder weniger von der Fraktion abgetrennt wird. Das geht nun überhaupt nicht.

Sie wollen die Seele der Partei streicheln, können Sie das denn überhaupt? Und gilt das auch für die Genossen im Osten?

Ernst: Ich musste in meinem bisherigen Job auch die Seele meiner Mitglieder bei der IG Metall streicheln. Das habe ich ganz gut hingekriegt. Die Belegschaften würden mit der IG Metall in Schweinfurth durch Dick und Dünn gehen. Ich denke, das kriegen wir jetzt gemeinsam auch in der LINKEN gut hin. Und ich muss sagen, wie wir bisher gemeinsam aufgetreten sind, das war einfach schön. Wenn wir unsere Position darstellen, reagieren große Teile der Partei eher mit Sympathie und ermuntern uns bei unseren Vorhaben. Ich glaube, die werden uns unterstützen. Anders geht es auch gar nicht.

Noch mal, werden Streicheleinheiten auch im Osten ausgeteilt?

Ernst: Im Osten habe ich die wenigsten Sorgen. Die habe ich eher gegenüber früher relativ kleineren Organisationseinheiten im Westen, die versucht haben, die Mehrheit mittels gegenseitiger Bekämpfung bis zum Abwinken davon zu überzeugen, dass sie recht haben. Und das mit wenig Erfolg. Wir müssen alle miteinander akzeptieren, dass wir eine Partei sind, die nach außen wirkt und zur Kenntnis genommen wird.

Öffnen wir den Blick nach außen. Was sehen Sie für ihre potenzielle Amtszeit als das herausragende Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzung?

Lötzsch: Ich habe in der Partei häufig die Erfahrung gemacht, dass man sich alle halbe Jahre eine neue Kampagne ausgedacht hat, aber das Ergebnis nicht zählte. Für mich ist das Ergebnis wichtig. Ich merke auch in Gesprächen, dass das die Wähler am meisten interessiert. Wenn wir mit einer Wahlaussage in die Wahl gehen, auch wenn wir Opposition sind, wollen die Leute trotzdem wissen, was wir bewegt haben. Deshalb bleibt die Durchsetzung des Mindestlohns ein Schwerpunkt. Ebenso wie der Kampf gegen die Kopfpauschale und für eine gerechte Gesundheitsversorgung – und eben auch die Gemeindeschwesternidee, für die ich schon seit vielen Jahren in verschiedensten Formen werbe, um auch die medizinische Versorgung auf dem Land zu sichern. Nicht zuletzt sehe ich meine Aufgabe auch darin, dafür zu sorgen, dass die ostdeutschen Erfahrungen weiter in der Partei Gewicht haben.

Haben Sie da bleibende Sorgen, auch in der LINKEN?

Lötzsch: Wir hatten jüngst eine Anhörung in der Bundestagsfraktion zu 20 Jahren Treuhandanstalt – und da zeigte sich wieder einmal, dass viele Dinge, die in Ostdeutschland geschahen und geschehen, längst nichts mit bundesdeutscher Normalität zu tun haben. Ich habe angesichts der Verkäufe der Brandenburger Seen, die uns als etwas völlig Normales im bundesdeutschen Immobilienhandel vermittelt werden, einen Versuch gestartet, im Westen einen See zu kaufen. Meine Praktikantin hat im Internet recherchiert, Immobilienmakler angerufen und herausgefunden, dass Seen in den alten Bundesländern nicht verkauft werden. Man hat uns im Westen sogar gefragt, ob wir noch ganz dicht sind. Es gibt immer noch zwei Lebenswelten. Viele Fehler kann man im Westen vermeiden, wenn man sich die Geschichte Ostdeutschlands anschaut.

Ernst: Am Mindestlohn und anderen Kernpunkten, wie Hartz IV, Rente ab 67, Gesundheit, müssen wir weiterarbeiten. Fest steht, wir werden uns sehr schnell zum Thema Kommunalfinanzen verhalten müssen. Und neben dem leidigen Thema mit den Banken ist mir besonders wichtig, die Idee der Mitarbeiterbeteiligung weiter zu verfolgen. Ich halte den Vorschlag für sehr klug, dass wenn Staatsgeld fließt, das Geld nicht an das Unternehmen oder die Banken geht, sondern in eine Stiftung. Wenn die Stiftung zur Hälfte aus Arbeitnehmern besteht, sind die somit am Unternehmen beteiligt. Wir ändern damit die Eigentumsverhältnisse und es entstehen Rechte für die Beschäftigten. Das Thema – das kann man auch bei Diskussionen in den Gewerkschaften besichtigen – ist auf der Tagesordnung. Und dieser Vorschlag ist nicht wie früher als typische DDR-Denke zu diskreditieren. Das beschäftigt inzwischen sehr viele Menschen im Land.

Und das zieht auch in Nordrhein-Westfalen im Wahlkampf?

Lötzsch: Die Wähler wissen, dass die NRW-Wahl eine kleine Bundestagswahl ist. Und darum wissen sie auch, dass alles, was sie entscheiden, mit der Bundespolitik zu tun hat. Wir versuchen ihnen zu verdeutlichen: Unterstützen sie Schwarz-Gelb weiter, rückt die Kopfpauschale näher. Unsere Aufgabe ist, den NRW-Wählern klarzumachen, dass wir Schwarz-Gelb abwählen können. Nicht nur ich sehe große Übereinstimmungen zwischen LINKEN, Grünen und SPD. Viele Wähler sehen die Schnittmengen und erwarten ganz einfach, dass die Parteien sich nicht gegenseitig bekämpfen, sondern den Durchmarsch von Schwarz-Gelb stoppen. Wenn ich SPD-Spitzenkandidatin Hannelore Kraft wäre, würde ich nicht sagen, ich will die LINKE im Landtag verhindern – sondern ich würde sagen, ich will die FDP aus der Regierung werfen.

SPD-Chef Sigmar Gabriel behauptet, dass Gregor Gysi jeden Tag dreimal dafür betet, dass die NRW-LINKE nicht zu einer Regierungsbeteiligung kommt.

Ernst: Das ist eine Verleumdung. Gregor Gysi ist im Wahlkampf unermüdlich aktiv. Es ist absurd, wenn Gabriel ihm unterstellt, er wolle keine Regierungsbeteiligung der LINKEN in NRW. Damit lenkt er nur davon ab, dass die SPD selbst – wie auch die Grünen – ihren Wahlkampf mehr gegen uns als gegen Schwarz-Gelb führen. Unsere Regierungsbeteiligung wäre im Übrigen eine Voraussetzung dafür, die schwarz-gelbe Bundesratsmehrheit zu kippen.

Auch führende Linkspolitiker hatten aber Bedenken geäußert, ob das Wahlprogramm der NRW-LINKEN für ein gutes Ergebnis und für einen Regierungswechsel an Rhein und Ruhr geeignet sei.

Ernst: Es ist natürlich die Frage, ob man das Recht auf Rausch unbedingt ins Wahlprogramm schreiben muss. Aber für einen inszenierten Volksaufstand reicht das auch nicht. In Bayern gibt es das Recht auf Rausch jedes Jahr 14 Tage lang auf dem Münchner Oktoberfest. Da regen sich Union und SPD nicht auf, im Gegenteil, sie beteiligen sich an diesem Rausch.

Ost-Fraktionschefs forderten gerade mehr Anstrengungen für rot-rote Landesregierungen. Unterstützen Sie diesen Kurs?

Lötzsch: Jede kandidierende Partei muss sehen, dass sie so viele Wähler wie möglich hinter sich versammelt. Hat sie Mehrheiten oder viel Einfluss, muss sie sich auch der Regierungsverantwortung stellen. Die entscheidende Frage ist, mit wem sie das macht, wie sie den Koalitionsvertrag aushandelt und wie sie den dann auch umsetzt. Wenn wir irgendwo die stärkste Fraktion stellen, dann haben wir in einer Reformkoalition auch das Recht, den Ministerpräsidenten oder die Ministerpräsidentin zu stellen. Unsere Wähler fragen uns sonst völlig zu Recht, warum sie uns wählen sollen, wenn wir mit ihrer Stimme nichts machen würden. Wir haben seit vielen Jahren Erfahrungen mit Regierungsbeteiligungen. Eine Aufgabe der Parteivorsitzenden muss es sein, den Erfahrungstransfer zu organisieren, damit nicht jeder das Rad neu erfindet. Die Inhalte sind zentral, aber Handwerk ist auch wichtig. Wenn beides stimmt, kann man was erreichen. Es muss das Interesse der Gesamtpartei sein, dass die beiden rot-roten Regierungen in Berlin und Brandenburg – und hoffentlich noch mehr – zu Erfolgsmodellen werden.

Bekommt Rot-Rot in Berlin und Brandenburg auch von Klaus Ernst Rückenwind?

Ernst: Natürlich. Ich bin sehr froh darüber, dass Berlin die Tarifverträge der christlichen Gewerkschaften mit den Leiharbeitsfirmen in zwei Urteilen geknackt hat. Ich bin auch stolz darauf, dass Berlin und insbesondere die Sozialsenatorin unserer Partei die Kosten der Unterkunft bei Hartz IV so extensiv ausgenutzt hat, dass der Bund klagen musste. Und ich bin stolz auf den öffentlich geförderten Beschäftigungssektor für inzwischen 7500 Berliner. Ich rate auch allen, die Regierungsarbeit in Brandenburg anhand der Praxis fair zu bewerten. Bei künftigen Regierungsbeteiligungen muss eine enge Verzahnung hergestellt werden zwischen dem, was wir auf Bundesebene machen, und dem, was im Land stattfindet. Die Partei braucht eine gemeinsame Linie, die sich in der Kommunal-, Landes-, Bundes- und Europapolitik wiederfindet, und es ist Aufgabe des Parteivorstandes, das zu organisieren. Das heißt nicht, dass wir den Ländern vorschreiben, was sie zu machen haben. Aber wir wollen, dass miteinander geredet wird, bevor Entscheidungen fallen.

Zu den Regierungsbeteiligungen in Berlin und Brandenburg gab es Kritik aus den Westverbänden, auch von Oskar Lafontaine. Die Kritiker weisen zugleich darauf hin, sie hätten in Hessen, Hamburg und im Saarland durchaus auch mitregieren wollen. Woher kommt denn die Gewissheit, im Westen mit sechs oder acht Prozent mehr durchsetzen zu können als mit 20 Prozent im Osten?

Ernst: Gewissheit für das, was man durchsetzen kann, gibt es auch im Westen nicht. Mir ist wichtig, dass wir unsere Grundsätze nicht über Bord werfen, miteinander reden und uns gegenseitig helfen. Schließlich gibt es in der Partei genug Leute, die das eine oder andere schon hingekriegt haben.

Muss die LINKE lernen, geduldiger zu werden? In Berlin ist die zweite Legislatur von Rot-Rot bislang besser und erfolgreicher gelaufen als die erste. Gleiches galt seinerzeit für Rot-Rot in Mecklenburg-Vorpommern.

Lötzsch: Es reicht eben nicht nur, dass die Richtung stimmt. Der Teufel liegt oft im Detail. Deshalb plädiere ich für mehr Handwerk und mehr Erfahrungsaustausch. Uns im Bundestag geht es doch nicht anders. Man muss sehr genau ins Kleingedruckte schauen. Vieles, was an Gesetzesentwürfen vorgelegt wird, wurde von Lobbyisten gestrickt, das erkennt man aber nicht auf den ersten Blick. Ein Beispiel: Als 2004 die Hedgefonds in Deutschland zugelassen wurden, hat eine Vertreterin eines großen Finanzdienstleisters direkt im Finanzministerium gesessen. Auf solche Fallstricke muss man achten – und wir müssen unsere Genossen, die wir in Regierungen entsenden, befähigen, so etwas zu erkennen und dagegen anzugehen.

Können Sie ein Strukturproblem von Doppelspitzen ausschließen, dass einer dem anderen die Butter vom Brot zu klauen versucht. Planen Sie eine spezifische Arbeitsteilung, etwa die eine für den Osten, der andere für den Westen, die Frau für die weiblichen Mitglieder und die PDS, der Mann für die männlichen und die WASG – oder welche Handschrift sollen die Mitglieder wo erkennen?

Lötzsch: Wir wollen gerade nicht, dass der eine hier seinen Schubkasten hat und die andere dort, sondern gemeinsam Politik entwickeln und vertreten. Natürlich hat jeder seine Stärken und soll die besonders nutzen. Aber ein gegenseitiges Übertrumpfen wird es bei uns nicht geben. Auch, weil wir schon ausreichend Gelegenheit hatten, andere Doppelspitzen – zum Beispiel bei den Grünen – zu beobachten, die dieses gegenseitige Ausstechen vorexerziert haben. Auch negative Vorbilder machen klug.

Ernst: Wir werden beide gemeinsam daran gemessen, ob es uns gelingt, diesen Laden vernünftig zu organisieren. Das geht nur miteinander und nicht gegeneinander.

In 2010 gibt es nach NRW keine weiteren Wahlen, bei denen der neue Vorstand sich schnell profilieren und einen Erfolg messen lassen könnte. 2011 kommen sechs Landtagswahlen und dann geht es schon stramm auf die Bundestagswahl 2013 zu. Wollen Sie die LINKE in drei Jahren als Motor für eine Alternative zu Schwarz-Gelb im Bund präsentieren?

Lötzsch: Wir haben im Entwurf des Parteiprogramms zum ersten Mal aufgeschrieben, dass wir unter bestimmten Voraussetzungen eine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene anstreben. Die Betonung liegt freilich auf dem Einschub: unter bestimmten Voraussetzungen. Das braucht entsprechende Wählerzustimmung. Potenzielle Partner, insbesondere die SPD, müssen sich überlegen, was sie wollen. Und dann ist unbedingt eine gesellschaftliche Stimmung nötig, die eine Veränderung wünscht. Natürlich stellt sich unsere Partei mit dem Wahlantritt auch der Regierungoption. Wenn wir das ausschlössen, machten wir es den anderen Parteien viel zu einfach.

Ernst: Unsere Ziele sind klar, jetzt kommt es darauf an, inwieweit die Grünen wieder grün und die Sozialdemokraten wieder sozialdemokratisch werden. Das ist die Voraussetzung, damit auf Grundlage der Programmatik zwischen den Parteien Übereinstimmungen gefunden werden können. Es kommt nur auf die Inhalte an. Es wäre vollkommen falsch, ein Mitregieren auszuschließen – genauso falsch wäre es, ein Regieren um jeden Preis zu wollen.

Jenseits politischer Prämissen zeigte die SPD sich psychisch blockiert, weil sie bei der Bundes-LINKEN einen Gesprächspartner hatte, der zuvor ihr eigener Parteichef war und aus der SPD ausgetreten ist. Rechnen Sie damit, dass die SPD mit einem Linksparteivorsitzenden, der aus der SPD ausgeschlossen wurde, weniger fremdelt?

Ernst: Da geht es weniger um persönliche Animositäten, als vielmehr darum, dass Lafontaine wie die LINKE der SPD permanent den Spiegel vorhalten. So lange sich die SPD nicht ändert, ist eine Zusammenarbeit im Bund nicht möglich.

Aber hätte sich die LINKE nicht erledigt, wenn die SPD auf den Linkskurs einschwenken würde, den Sie wünschen?

Lötzsch: Nein. Viele Leute wollen eine eigenständige Linke links von der SPD. Zumal sich immer wieder zeigt, dass nicht jede Veränderung auf dem Papier bei der SPD auch wirklich eine Veränderung ihrer Politik bedeutet. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen: Je erfolgreicher die LINKE ist, desto mehr ändert sich auch die SPD.

Ernst: In dem Moment, in dem die SPD ein Korrektiv von links verliert, geht sie nach rechts. Das ist Fakt. Und ich glaube, dass auch immer mehr Menschen das merken. Wir müssen der Motor bleiben für die wirklichen grundsätzlichen sozialen Veränderungen. Dazu ist die SPD in der Mehrheit nicht in der Lage. Wenn wir mit unseren Positionen Zustimmung bei den Bürgern finden – und das tun wir –, dann verändern sich die anderen mit. Das kann man am Mindestlohn und an der Rente sehen, wie an Afghanistan.

Zitate

Nicht nur ich sehe in NRW große Übereinstimmungen zwischen LINKEN, Grünen und SPD. Viele Wähler sehen die Schnittmengen und erwarten ganz einfach, dass die Parteien sich nicht gegenseitig bekämpfen, sondern den Durchmarsch von Schwarz-Gelb stoppen.
Gesine Lötzsch

Wir wollen uns noch mehr als in der Vergangenheit um die Partei kümmern – aus der Phase der Gründung müssen wir in die Phase der Konsolidierung gelangen.
Klaus Ernst

Das designierte Führungsduo der LINKEN tourt gegenwärtig durchs Land, um an der Parteibasis in eigener Sache zu werben.
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