Der Verlust der Nacht
Leibniz-Forscher untersuchen die Folgen für Mensch und Umwelt
Schon seit Urzeiten bedeutet Sonnenlicht für das »tagaktive« Säugetier Mensch vor allem Sicherheit, weil Gefahren und Nahrung besser sichtbar waren. Dunkelheit hingegen stand für Bedrohung, Raubtiere oder Feinde konnten sich ungesehen anschleichen. Nach der Entdeckung des Feuermachens zogen sich unsere Vorfahren zum Schutz nachts an diese Lichtquelle zurück. Auch später galten künstliches und Sonnenlicht in Religion und Philosophie als Sinnbild geistiger Erleuchtung. Finsternis stand – und steht – hingegen für Armut, Gefahr oder Dummheit.
Brachten Feuer, Fackeln, Kerzen oder Öllampen über Jahrtausende ein eher bescheidenes Licht ins Dunkel, so erreichte die Bezwingung der Nacht seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine völlig neue Dimension: Mit der Einführung der Gasbeleuchtung, insbesondere aber mit der Verbreitung des elektrischen Lichts seit den 1880er Jahren wurde speziell in Städten die Nacht buchstäblich zum Tage gemacht. Die Revolution der Beleuchtungssysteme trug maßgeblich zum Wandel der Arbeits- und Lebenswelt in der industriellen Welt, der Abkehr vom Tag-Nacht-Rhythmus und der Verlängerung wirtschaftlicher und sozialer Aktivitäten in die Nacht bei.
Das elektrische Licht wurde schlechthin zum Symbol der Moderne, des Fortschritts, Wohlstands. Dunkelheit wurde zunehmend mit ländlicher Rückständigkeit oder Bedrohung in Verbindung gebracht: Verdunkelung im Krieg, Chaos bei Stromausfällen und Not bei Energieknappheit.
Doch das Verhältnis des Menschen zur Nacht ist durchaus zwiespältig: »Ihr wohnt etwas Mystisches, Geheimnisvolles inne«, sagt Ernst Rietschel, Präsident der Leibniz-Gemeinschaft. Der Blick auf das unendliche, sternenübersäte Firmament oder ein Sternschnuppenregen haben Menschen seit jeher fasziniert. Doch infolge der jährlichen fünf- bis sechsprozentigen Zunahme der künstlichen Beleuchtung ist selbst in klaren Nächten die Milchstraße nur noch für etwa die Hälfte der Europäer sichtbar. »Punktuell abgestrahltes Licht von Straßenbeleuchtung, Verkehr, Leuchtreklamen, Denkmälern oder Lichtinstallationen wird durch Reflektion an Straßen und Wänden und durch die Streuung an Schwebteilchen in der Luft zu einem Lichtermeer, in dem das Sternenlicht ertrinkt«, erklärt die Historikerin Ute Hasenöhrl.
Der Verlust der Nacht hat auch zahlreiche negative Effekte auf Mensch und Umwelt, die bisher kaum untersucht sind. »Die Segnungen des Lichts zu nutzen, ohne damit Mensch und Natur zu schädigen«, dies wollen Rietschel und sein interdisziplinärer Forschungs-Verbund aus Ökologen, Medizinern, Astronomen, Lichttechnikern, Raum- und Sozialwissenschaftlern der Leibniz-Gemeinschaft angehen. Die Wissenschaftler erforschen die Auswirkungen von künstlichem Licht und des Verlustes von Tag-Nacht-Erlebnissen und wollen intelligente, angepasste Beleuchtungskonzepte entwickeln.
Künstliches Licht erhöht zweifellos die Sicherheit auf Straßen und Plätzen, lässt ganze Städte erstrahlen – und hat seine Schattenseiten. »Weltweit verursacht die Beleuchtung rund ein Viertel des gesamten Energieverbrauchs«, erläutert Dietrich Henkel, Regionalplaner an der Technischen Universität Berlin. Zu den direkten Kosten für Installation und Energie kämen indirekte Folgekosten, beispielweise für durch Schlaflosigkeit bedingte Gesundheitsprobleme bei einem gestörten Tag-Nacht-Rhythmus.
Häufiger Wechsel zwischen Tag- und Nachtschichten kann Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursachen und sogar zur Entstehung von Krebs beitragen. Der stärkste biologische Taktgeber für Lebewesen ist das Licht. Ausschließlich bei Dunkelheit wird im Gehirn das Hormon Melatonin ausgeschüttet. Das macht müde. Melatonin synchronisiert die verschiedenen Funktionen des Körpers und erlaubt ein effektives Regenerieren während der Ruhephase.
Licht hingegen hemmt seine Produktion und sorgt unter anderem dafür, dass die Körpertemperatur, die während des Schlafs heruntergefahren wird, kurz vor dem Erwachen wieder ansteigt ebenso wie der Spiegel des Stresshormons Kortisol. Dadurch werden die Systeme des Körpers aktiviert und auf das Aufwachen vorbereitet. Das Signal für die innere Uhr ist der Wechsel zwischen Hell und Dunkel. Wird dieses Signal schwächer, kann die Synchronisation des Organismus gestört werden. Die Leibniz-Forscher untersuchen nun, ob Kunstlicht ähnlich wie Schichtarbeit den Hormonhaushalt gravierend durcheinanderbringt und so die Gesundheit beeinträchtigt. Erste Ergebnisse zeigen, dass schon sehr geringe Kunstlichtstärken ausreichen, um die Melatoninausschüttung zu beeinflussen. Licht bestimmt nicht nur den Tagesrhythmus von Menschen, sondern von fast allen Organismen. Selbst Zooplankton in Gewässern und damit die Fische, die sich davon ernähren, wandern je nach Tageslicht senkrecht auf und ab. Diese Wanderung wird durch Kunstlicht am Gewässerrand verringert. »Je nach Lichtstärke, Farbspektrum sowie Zeitpunkt und Dauer der Beleuchtung kann jede einzelne künstliche Lichtquelle mitunter negative Folgen auf lichtsensible – zumeist nachtaktive – Organismen haben«, sagt Projektleiter Franz Hölker. »Rund 30 Prozent aller Wirbeltiere und mehr als 60 Prozent aller Wirbellosen sind nachtaktiv.«
Auf Grund erster Ergebnisse empfehlen die Forscher eine an die Bedürfnisse von Mensch und Umwelt angepasste und intelligente Beleuchtung, die Sicherheitsanforderungen, Symbolik und negativen Folgen gegeneinander abwägt. Licht soll genau dosiert dorthin gelangen, wo wir es brauchen. »Zur Zeit werden in vielen Städten Deutschlands vorhandene Beleuchtungsanlagen gegen energie- und kostensparende Alternativen ausgetauscht«, sagt Henckel. Dies biete die Chance, Aspekte der Lichtverschmutzung zu berücksichtigen. »Denn in vielen Fällen sind energiesparende Beleuchtungssysteme auch ökologisch und gesundheitlich verträglicher.«
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